Besprechung vom 27.08.2025
Tausche Sex gegen Steine
Alles nicht so straight organisiert: Nathan H. Lents macht mit den sexuellen Raffinessen im Evolutionsgeschehen bekannt.
Mal angenommen, in "Findet Nemo" hätte sich der Clownfisch-Mann nach dem Tod der Clownfisch-Frau in ein Weibchen verwandelt. Beim Wiedersehen mit dem verloren gegangenen Sprössling Nemo hätte der festgestellt, dass sein Vater jetzt eine Mutter ist. Vermutung: Zu einer der erfolgreichsten Pixar-Produktionen wäre der Animationsfilm mit dem Plot nicht geworden. Reichlich Aufregung über die Indoktrinierung minderjähriger Kinobesucher mittels einer transfreundlichen Agenda wäre aber vermutlich drin gewesen. Dabei hätte die Geschichte so den biologischen Tatsachen mehr entsprochen: Stirbt in einer Clownfisch-Gruppe, die immer aus einem Alphaweibchen und mehreren männlichen Exemplaren besteht, das Weibchen, verkümmert beim ranghöchsten Männchen das Hodengewebe, das Eierstockgewebe wächst, es wechselt das Geschlecht und besetzt den verwaisten Platz.
Der amerikanische Evolutionsbiologe Nathan H. Lents erwähnt dieses Detail mit der unaufgeregten Sachlichkeit, die die Stärke seines Buchs "Diversität. Der biologische Sinn hinter der Vielfalt von Sex, Gender und Geschlecht" ist. Sein englischer Titel lautet übersetzt "Die sexuelle Evolution", was damit zu tun haben kann, dass es wenige Tage nach dem Beginn von Donald Trumps zweiter Amtszeit erschienen ist und sich in einem politischen Klima behaupten muss, in dem die Benutzung des Wortes "Diversität" in Forschungsprojekten den Entzug von Fördergeldern nach sich zieht. Der deutsche Titel ist aber passender. Im überwiegenden Teil des Buchs geht Lents zwar den Spielarten geschlechtlicher Merkmale und sexueller Verhaltensweisen in der Tierwelt nach, das letzte Viertel ist aber ein mit Fakten unterfüttertes Plädoyer gegen die Sicht auf Schwul-, Lesbisch-, Nonbinär- oder Transsein als irritierende Abweichung von einer heterosexuellen Norm. Schon im Vorwort macht Lents klar: Hier schreibt nicht nur ein Evolutionsbiologe, sondern auch ein schwuler Mann, dem die Akzeptanz queerer Lebensentwürfe ein Anliegen ist.
Die Belege, die er für den evolutionären Nutzen sexueller Vielfalt liefert, sind so handfest, dass man gar nicht erst versucht ist, auch in seiner Darlegung jene Voreingenommenheit zu suchen, die die wissenschaftliche Arbeit früherer Jahrzehnte in Bezug auf Geschlechterfragen geprägt hat. Das Buch ist mit seinem Anspruch, diese Verzerrung aufzudecken, eine ausgezeichnete Ergänzung zu Lucy Cookes "Bitch" (F.A.Z. vom 27.2.2024), das viele vermeintliche Tatsachen über weibliche Tiere als Resultat männlicher Dominanz in der Forschung entlarvt.
Die Botschaft von Cookes Buch ist auch die von Nathan H. Lents: Evolution hat kein Ziel außer dem, jede zur Verfügung stehende Strategie anzuwenden, die dem Überleben und der Fortpflanzung dient. Der biologische Sinn von Diversität besteht darin, in einer sich wandelnden Umwelt verschiedene dieser Strategien parat zu haben - und eine neue, zufällig entstandene Variation zu verstetigen, wenn sie sich bewährt.
Der konsekutive Hermaphroditismus der Clownfische ist eine solche Variation. Die Fähigkeit, potentiell Samen- und Eizellen zu produzieren - also jede der beiden Fortpflanzungszellen, deren Vorhandensein entscheidet, ob ein Lebewesen als männlich oder weiblich gilt -, macht flexibel und anpassungsfähig. Ein Clownfisch-Harem, dem das Weibchen abhandenkommt, hat ein Problem - bis er aus den eigenen Reihen für Frauennachschub sorgt. Man könnte meinen, die Beschränkung auf ein Brutpaar in der Gruppe sei für die Fortpflanzung unvorteilhaft, doch hier kommen die Seeanemonen ins Spiel, in denen Clownfischfamilien leben: Unmengen an Fischnachwuchs zu produzieren, könnte diese Symbiose gefährden.
Wie dynamisch das Konzept des biologischen Geschlechts ist, ist Inhalt nur des ersten Kapitels - es folgen welche zu vermeintlich männlichen und weiblichen Verhaltensweisen, zu Monogamie, Homosexualität und der Zweckentfremdung von Sexualität für andere Ziele als dem der Fortpflanzung. Hier haben die Bonobos ihren Auftritt, Meister im Stressabbau durch Fummelei, aber auch Adeliepinguine, die Sex gegen für den Nestbau benötigte Steine tauschen. Je sozialer eine Tierart, desto geschlechtsunabhängiger ihre sexuellen Aktivitäten, stellt Lents fest. Sex als soziale Betätigung stärkt Bindungen in einer Population, was nicht nur in Bezug auf das andere Geschlecht günstig ist. Darum kann man männliche Löwen, in deren Rudeln es Phasen der Konkurrenz, aber auch der Kooperation gibt, beim Liebesspiel inklusive analer Penetration beobachten. Auch die 2022 erstmals beobachtete Kopulation von Buckelwalen geschah zwischen zwei männlichen Exemplaren.
Bevor er sich den Primaten zuwendet, unseren nächsten Verwandten, beginnt Lents jedes Kapitel mit Beispielen aus den unterschiedlichsten Tierordnungen. Man lernt alloparentale Berberaffen kennen - die ganze Gruppe kümmert sich um den Nachwuchs -, polyandrische Kampfläufer - ein Weibchen paart sich mit mehreren Männchen - und dauerhaft monogame Präriewühlmäuse - eine Seltenheit bei Säugetieren. Lents redet nicht einer unterkomplexen Übertragung tierischer Verhaltensweisen auf menschliches Miteinander das Wort, wie sie Vertreter eines patriarchalen Rollenverständnisses mögen: Weibchen hütet Nachwuchs, Männchen verteidigt Revier - ist halt so. Der Gang durch die Tierwelt macht dagegen unleugbar klar, dass gleichgeschlechtliche Paarbildung, eingeschlechtliche Fortpflanzung, Zwittertum oder promiskuitive Weibchen dort keine Aberrationen, sondern weitverbreitet sind. Im Schnelldurchlauf aufgezählte sexuelle Praktiken indigener Gemeinschaften führen im Anschluss die Alternativen vor Augen, die es auch in der eigenen Spezies zum heterosexuellen und monogamen Beziehungsmodell gibt.
Nur Lents' kritischer Blick auf den eigenen Kulturkreis überzeugt nicht immer. Eine für ihn modellhafte Entsprechung der bei Tieren häufigen Unterscheidung von sexueller und sozialer Monogamie findet er ausgerechnet bei Eleanor und Franklin D. Roosevelt. Er zeichnet das harmonische Bild eines einander zugewandten Paars an der Spitze des amerikanischen Staates, das sexuell einvernehmlich getrennte Wege ging. Er mit diversen Sekretärinnen, sie vor allem mit der Journalistin Lorena Hickok. Dabei betont sogar die Autorin eines Buchs über die Beziehung der beiden Frauen, wie sehr es Eleanor Roosevelt verletzt hatte, dass ihr Mann sie betrog, während sie schwanger war. Fast ließ sie sich scheiden. Die Untermauerung seiner Argumentation mit geglätteten, recht oberflächlich umrissenen Beispielen aus der Menschenwelt - überrascht liest man auch vom sexuell höchst umtriebigen Doppelagenten-Ehepaar Karl und Hana Koecher - hätte Lents gar nicht gebraucht. Seinen Punkt hat er da schon glasklar gemacht. PETRA AHNE
Nathan H. Lents: "Diversität". Der biologische Sinn hinter der Vielfalt von Sex, Gender und Geschlecht.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. DuMont Verlag, Köln 2025. 448 S., Abb., geb.
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