Besprechung vom 12.07.2025
Gefühlvoll
Bernhard Pörksen weiß von einer Tugend
Gesellschaftliche Debatten sind Bernhard Pörksen zufolge immer stärker von Vorverurteilungen geprägt: Querdenker und Impffanatiker, woke Linke und alte weiße Männer, Russlandfreunde und die Ukraine unterstützende Kriegstreiber stehen sich, so der Medienwissenschaftler, unvereinbar gegenüber. Sie alle meinen zu wissen, was von der jeweiligen Gegenseite zu erwarten ist. Das Ergebnis: Pattsituationen in Diskussionen und gesellschaftliche Polarisierung. Wie ist das zu überwinden? In seinem Buch plädiert Pörksen, der Titel zeigt es an, für die Tugend des Zuhörens.
Um herauszufinden, wie Kommunikation funktionieren oder scheitern kann, fährt er zur Odenwaldschule, an der sich der Reformpädagoge Gerold Becker über Jahre an Schülern verging, und redet mit Margarita Kaufmann, die als Schulleiterin zur Aufklärung des Skandals beigetragen hat. Er spricht mit dem Ukrainer Misha Katsurin, der wegen des Krieges den Kontakt zu seinem in Russland lebenden Vater verloren hat. Im Silicon Valley widmet er sich der Frage, wie sich das Internet zum Ort der Kommerzialisierung und der Häme wandeln konnte. Zuletzt unterhält er sich mit Klimaaktivisten darüber, warum viele Menschen die seit Jahrzehnten bekannten Gefahren der Erderwärmung weitestgehend ignorieren.
Eine von Pörksens Thesen lautet: "Wir hören, was wir fühlen." Das anzuerkennen, bedeute, "von sich zu sprechen, sich berührbar zu zeigen, verbunden mit der Welt, die man beschreibt". Die Warnungen vor dem Klimawandel beispielsweise erscheinen neben Versprechungen des Konsums wenig attraktiv. Um auf die kritische Erderwärmung aufmerksam zu machen und diese zu stoppen, brauche es folglich Bilder, persönliche Geschichten und vertrauensvolle Botschafter - beispielsweise Kinder, die mit ihren Eltern und Großeltern sprechen.
Emotionale und eindringliche Erzählungen, die wir ohnehin schon sympathisch finden, bekommen viel Aufmerksamkeit, auch dann, wenn sie argumentativ schwächer sind als andere. Pörksens favorisierte Erzählformen folgen dieser Logik, und er reagiert auf das Problem mit dem Konzept des Ich- und Du-Ohrs. Das Ich-Ohr ist limitiert durch die eigene Weltanschauung: Anstatt andere Perspektiven kennenlernen oder eine andere Person verstehen zu wollen, wirken persönliche Auffassungen und Interessen wie ein Filter, der Unerwünschtes ausblendet. Beim Du-Ohr, so Pörksen, tritt die persönliche Perspektive in den Hintergrund: Der Zuhörer bemüht sich, in die Welt des anderen einzutauchen. Die Gesellschaft, so der fromme Wunsch, müsse wieder mehr mit dem Du-Ohr zuhören, um gegenseitiges Verständnis zu fördern.
Allerdings hat der Autor die Auswahl seiner Gesprächspartner für das Buch, denen er mit dem Du-Ohr lauschen will, einseitig getroffen. Sie stehen ausnahmslos auf der moralisch richtigen Seite. Deswegen schreibt Pörksen - eine Art argumentativer Notausgang -, niemand könne gezwungen werden, zuzuhören. Es liege im eigenen Ermessen, wem man Gehör schenkt. Nach welchen Maßstäben der Autor bestimmt, wem er zuhören möchte und wem nicht - das bleibt bis zuletzt unklar. GRETA ZIEGER
Bernhard Pörksen: "Zuhören". Die Kunst, sich der Welt zu öffnen.
Carl Hanser Verlag, München 2025. 336 S., geb.
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