Wachs von Christine Wunnike ist morbide, sprachlich hinreissend und trotz aller Tragik und Erschwernisse der Zeit um die französische Revol
Die Tochter eines Apothekers braucht eine Leiche. Sie will sezieren, sie will üben und die Familie unterstützen. Sie will die beste Anatomin werden und in die französische Geschichte eingehen. Das wird sie später auch. Marie Marguerite Bihéron wird Zeichnerin und Bildnerin von anatomischen Wachspräparaten. Sie wird damit Weltruhm erlangen. Im Jahre 1759 lud der Chirurg und Enzyklopädist Sauveur François Morand sie ein, vor der Académie des Sciences zu sprechen. Ihr detailliertes und naturgetreues Modell einer schwangeren Frau und eines Fötus waren weltbewegend. Auch der Kronprinz von Schweden, Gustav III., war begeistert.Der Roman verfolgt zwei Zeitstränge. Wachs erzählt von den Jahren vor, während und nach der französischen Revolution und von der Zeit der Aufklärung, die die bestehende Ordnung infrage stellen muss. Verstand, Fortschritt und die Wissenschaft rücken hier ins Zentrum, Gleichheit und Toleranz sind gefordert. So erscheint auch die homosexuelle Beziehung der beiden Frauen auf der literarischen Leinwand, wie selbstverständlich, ohne den Text zu dominieren. Ganz nebenbei tauchen die grossen Köpfe der historischen Gegenwart auf, auch Diderot zum Beispiel lässt sich in der Anatomie unterrichten. Wachs ist ein grandioser historischer Roman, ein komplexes Portrait der Zeit, obwohl der Text auf unter 200 Seiten Platz hat. Er rankt sich um zwei ungewöhnliche Frauen, die über 50 Jahre in einer Liebesgeschichte verbunden sind, so unterschiedlich sie auch waren. Wie viel Mut und Glauben und Können waren im 18. Jahrhundert notwendig, um eine Branche zu erobern, die Männern vorbehalten war? Der Kraftakt findet in allen Varianten Ausdruck, laut und leise und in einer hinreissenden Sprache. Sie ist voller Ironie und ausserdem seltsam altertümlich, es ist fast eine eigene Kunstsprache. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die historische Wirklichkeit keine Wirklichkeit ist, es ist vielmehr eine Annahme, wie es hätte sein können. Vieles lernt Marie in London, in Frankreich galt nun das auseinandernehmen von Leichen als wirklich nicht schädlich. So ist der Text auch absolut eklig, morbide, sensationell wissenschaftlich, anatomisch blutig und nie das Menschliche verlierend. Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht, schreibt Madeleine an Linné, bevor sie diesen Brief, wie alle anderen, verbrennt.Ihre Lebensgefährtin Madeleine Basseport kämpft als bekannte Zeichnerin ebenso mit der Männerherrschaft und gegen die Ungerechtigkeit der Ungleichbehandlung der Geschlechter. Sie fand ihre Bestätigung als Pflanzenmalerin des Jardin du Roi, eine gerechte Bezahlung jedoch nie.Dieser Roman ist auch ein feministisches Buch, vielleicht auch ein bisschen queer, und eine augenzwinkernde Satire auf Weiblichkeitsfantasien, er ist eine Hymne auf jedes Schaffen und Denken abseits der Norm und eine Ode an eine Frau, die ihren eigenen Weg geht. Tragisch und komisch. Gegen alle Widerstände. Und gegen die Unvernunft.