
Was wissen wir wirklich über die Menschen, die uns am nächsten stehen?
Als Lea Ypi im Internet ein ihr unbekanntes Foto entdeckt, das ihre Großeltern 1941 beim Après-Ski in den italienischen Alpen zeigt, fragt sie sich, was sie wirklich über ihre Familie weiß. Warum hat ihre geliebte Großmutter Leman, genannt Nini, Französisch gesprochen, wenn sie doch in Saloniki aufgewachsen war, als Enkelin eines Würdenträgers? Was hatte sie bewogen, als junge Frau Griechenland zu verlassen und auf eigene Faust nach Tirana zu gehen? Wie war sie mit Asllan zusammengekommen, ihrem Mann, der bald für viele Jahre in einer »Universität« verschwand? Und warum lächelte sie im Schnee von Cortina und zu einer Zeit, in der es nichts zu lachen gab, weil in Europa ein grausamer Krieg tobte?
Lea reist an die Orte von Lemans Leben, um es Stück für Stück anhand von Archivalien, Akten und Anekdoten zu rekonstruieren. Gebannt folgt man ihr in die untergegangene Welt der osmanischen Aristokratie, an die Wiege der neuen Nationalstaaten auf dem Balkan und natürlich nach Albanien, erst unter faschistischer Besatzung, dann unter kommunistischer Herrschaft.
Fesselnd, empathisch und in ihrem unnachahmlichen Ton erzählt Lea Ypi in Aufrecht von den Wendepunkten eines Lebens in extremen Zeiten - von schicksalhaften Begegnungen, von Liebe und Verrat sowie von Entscheidungen gegen den Strom der Geschichte. Ihr neues Buch - der lang erwartete Prequel zum international gefeierten Bestseller Frei - ist atemberaubende Familiensaga und tiefgründige Reflexion über die Zerbrechlichkeit der Wahrheit. Mit der Kraft der Imagination setzt es Menschen ein Denkmal, die ihre Würde zu bewahren vermochten, als sie mit Stiefeln getreten wurde. Episch.
Besprechung vom 10.12.2025
Die Würde eines Lebens und der idealistische Trotz
Nach dem Welterfolg "Frei" legt Lea Ypi nun ein neues Buch vor: "Aufrecht", die Geschichte ihrer Großmutter, die verschiedene Diktaturen durchlebte.
Ein Unbekannter hatte das alte Schwarz-Weiß-Foto auf Facebook hochgeladen. Darauf zu sehen ist ein junges, auffallend gut gekleidetes Paar. Noch bevor Lea Ypi die Bildbeschreibung liest, erkennt sie ihre Verwandten - die geliebte Großmutter Leman und Großvater Asllan, der kurz nach Lea Ypis Geburt verstarb. Die beiden wurden im Winter 1941 fotografiert, im italienischen Dolomitenort Cortina d'Ampezzo, wo sie ihre Flitterwochen verbrachten.
Während die Enkelin im Jahr 2022 damit beschäftigt ist, das lange verschollen geglaubte Bild mit Familienerzählungen abzugleichen, trudeln Nutzerkommentare ein. "Kommunistische Schlampe", schreibt jemand und meint Lea Ypi, die sich davon nicht aus der Fassung bringen lässt. "Die Großmutter war auch eine Schlampe", schreibt ein anderer darunter, das stört Ypi schon deutlich mehr. Als Leman in einem weiteren Kommentar bezichtigt wird, "eine kommunistische Agentin und davor eine faschistische Kollaborateurin" gewesen zu sein, schließt Ypi die App.
Doch die Verdächtigungen und Unterstellungen bleiben nicht folgenlos. Schreiben hier wirklich nur böswillige, ahnungslose Trolle? Oder weiß vielleicht jemand mehr über die 2006 verstorbene Großmutter, genannt "Nini", die der Enkelin stets als "Inbegriff der Tugendhaftigkeit" erschien. Ist es nicht doch ein wenig verdächtig, dass Leman vor einem italienischen Nobelhotel steht und glückselig in die Kamera strahlt, während Mussolinis Armee ihre albanische Heimat besetzt hält und ganz Europa im grausamsten aller Kriege versinkt?
So jedenfalls beschreibt Ypi, die 1979 in Tirana geboren wurde und heute an der London School of Economics Politische Theorie lehrt, ihre durch einen Social-Media-Post ausgelösten Zweifel und Gedankenschleifen zu Beginn des Buchs "Aufrecht". Anschließend setzt sie Seite für Seite alles daran, sich die Deutungshoheit über die Lebensgeschichte ihrer Großmutter zurückzuerobern.
Dass es sich hier um ein ungewöhnlich bewegtes Leben handelte, um ein überaus erzählenswertes, exemplarisches "Überleben im Zeitalter der Extreme", wie es im Untertitel heißt, steht außer Frage: Leman Ypi, geborene Leskowiku, kam 1918 als Tochter eines albanischen Provinzgouverneurs im Osmanischen Reich zur Welt. Sie wuchs in Thessaloniki auf, das damals noch Saloniki hieß, sie besuchte ein französisches Gymnasium und verbrachte ihre ersten Lebensjahre auch ansonsten wie ein Mädchen aus allerhöchsten Kreisen sein Leben in einer längst untergegangenen Welt nun einmal verbracht hat.
Unter Enver Hoxha in Lagerhaft
Als 18-Jährige ging Leman nach Albanien, trat hier eine Stelle als Stenotypistin an. "Ich war die erste Frau in der albanischen Verwaltung", soll sie später stolz gesagt haben. Und sie lernte Asllan Ypi kennen, einen angehenden Juristen, den Sohn des hochrangigen Politikers: Xhafer Ypi, der von 1939 an bereitwillig mit den italienischen Besatzern Albaniens kollaborierte.
In den Vierzigerjahren bekamen Leman und Asllan einen Sohn, der nach seinem Großvater benannt wurde, und Albanien bekam den Stalinismus, an dem der Parteivorsitzende und Diktator Enver Hoxha noch unbeirrbar festhalten sollte, als nach Stalins Tod überall im Ostblock das Tauwetter anbrach. Asllan verbrachte unter seinem einstigen Schulkameraden Hoxha 15 Jahre in Lagerhaft.
Vieles davon ist bereits bekannt. Zumindest mit den Eckdaten von Lemans Biographie dürften die Leser von "Frei" vertraut sein. Unter diesem Titel erschien vor vier Jahren Lea Ypis international gefeiertes Memoir über Albanien unmittelbar vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Aus der Perspektive des Kindes und der Heranwachsenden schilderte sie darin, wie eine Welt für sie zusammenbrach, als kurz nach Hoxhas Tod auch dessen Statue vom Sockel stürzte und die Menschen plötzlich wählen durften, was sie wollten.
Zugleich tat sich eine neue Welt für die Zehnjährige auf. Denn endlich gaben ihr die erwachsenen Familienmitglieder Antworten auf Fragen, die sie zuvor nicht mal hatte stellen dürfen. War sie wirklich nicht mit dem einstigen Premierminister Xhafer Ypi, dem Klassen- und Staatsfeind schlechthin, verwandt? Warum spricht Nini Französisch mit ihr? Warum sprachen Nini und ihre Cousine gelegentlich sogar Griechisch? Weshalb hatte sie das Bild von "Onkel Enver" eigentlich niemals im Wohnzimmer aufhängen dürfen? Es ging zudem um den verheerenden Triumphzug eines völlig unregulierten Kapitalismus, der 1997 zum albanischen Bürgerkrieg führte.
Am Schluss wurde die entscheidende Botschaft formuliert: Am real existierenden Staatssozialismus gibt es nichts zu beschönigen und er sollte keinesfalls wiederholt werden. Dennoch, das steht für Ypi fest, ist echte Freiheit im Kapitalismus nicht möglich. In Vorträgen und anderen Schriften hat sie diesen Gedanken ausführlicher gefasst, sie hat Marx mit Kant kombiniert und ihre Vision für die beste aller möglichen Welten auf den Namen "moralischer Sozialismus" getauft.
Man muss dieser Gesellschaftsutopie keineswegs anhängen, um sich von "Frei" in den Bann ziehen zu lassen. Verbindet Ypi in dieser Erzählung über ihr "Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" doch eine faszinierende Familiengeschichte mit einem erfahrungssatten Lehrstück darüber, wie politische Systeme das Bewusstsein formen und verformen. Die philosophisch-existenzielle Frage, ob ein Individuum sich dennoch einen Rest Freiheit und Würde bewahren kann, hat die Autorin am Beispiel ihrer Großmutter positiv beantwortet.
Diese Frage steht in "Aufrecht" erneut im Zentrum. Nur kann sich Ypi, die nun die Geschichte ihrer Großmutter aufrollt, bevor diese zur Großmutter wurde, nicht mehr auf die Perspektive der Zeitzeugin berufen. Sie behilft sich, indem sie ihre Schilderung zum einen als Recherche-Bericht aufzieht und ausgiebig dokumentiert, wie sie Ämter, Archive, Friedhöfe in Tirana und Thessaloniki nach amtlichen Papieren, Spitzelberichten und sonstigen Spuren absuchte, dabei jedoch selten auf brauchbare Informationen stieß.
Lust an der Imagination
Gegen diese dürftige Aktenlage lehnt sich Ypi in einem zweiten Erzählstrang auf, wenn sie Lemans erste Lebenshälfte rekonstruiert und sich dabei ein gerütteltes Maß an künstlerischer Freiheit herausnimmt. Mit offenkundiger Lust an der Imagination erzählt Ypi vom spätosmanischen Luxus, der ihre Großmutter als Kind umgab: die Teppiche, der Käfig voller Kanarienvögel, die Berge von Baklawa, die Lemans Vater zum tödlichen Verhängnis wurden. Nicht minder pittoresk ist die Schilderung eines Kaffeehauses im Tirana der Zwischenkriegsjahre, wo Asllan und Leman erste Flirtversuche wagen und dabei von einem unwirsch auftretenden jungen Mann (Enver Hoxha) gestört werden. Schließlich werden die Schikanen, die soziale Isolation und die Gewalt beschrieben, die Leman als "Klassenfeindin" im stalinistischen Albanien ertragen muss, während ihr Mann zu Lagerhaft verurteilt wird.
Das alles fügt sich zu einem anschaulichen Epochenpanorama, das noch ein wenig eindrucksvoller und konturierter ausgefallen wäre, wenn auf die ein oder andere Ausschmückung, Figurenüberzeichnung oder Putzigkeit im Dialog verzichtet worden wäre. Zudem gibt Ypi ihren anfangs gefassten Vorsatz, die Großmutter nicht zu idealisieren, auffallend früh und sehr bereitwillig auf.
Bisweilen laufen die beiden Erzählspuren - die Schilderung der Recherchereise und die stark fiktionalisierte Lebensgeschichte Lemans - eigentümlich unverbunden nebeneinander her. Irgendwann muss Ypi sich eingestehen, dass sie nicht nur wenig Neues über ihre Großmutter herausgefunden hat, sondern dass sie sich zudem auf eine falsche Fährte hat locken lassen. Denn in die Unterlagen Lemans haben sich Fragmente einer Frau gleichen Namens eingeschlichen. "Ist die Frage, wer genau Leman ist, von Bedeutung?", schreibt Ypi, die sich nicht so recht damit abfinden mag, dass sie sich bei dem Vorhaben, Familienforschung, philosophischen Essay und literarische Ambition zu verbinden, ein wenig übernommen hat. Sie versucht, alles unter Berufung auf eine höhere Wahrheit doch noch zu retten und beschwört den "Glauben an die erlösende Kraft der Kunst". Das ist in seinem hochfahrenden idealistischen Trotz keineswegs uncharmant, aber nicht in jeder Hinsicht überzeugend. MARIANNA LIEDER
Lea Ypi: "Aufrecht". Überleben im Zeitalter der Extreme.
Aus dem Englischen von Eva Bonné, Suhrkamp Verlag, Berlin 2025.
389 S., Abb., geb.
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