Mit "Erde" legt John Boyne den zweiten Band seiner geplanten Tetralogie vor. Thematisch ist dieser unabhängig vom ersten Teil und für sich allein lesbar.
Im Zentrum der Geschichte steht Evan, ein erfolgreicher Fußballprofi, der eigentlich Künstler werden wollte. Aufgewachsen auf einer kleinen irischen Insel, geprägt von einem homophoben, toxisch-männlichen Vater und einer passiven, zugleich liebevollen Mutter, entwickelt Evan früh das Gefühl, in seinem eigenen Leben gefangen zu sein.
Boyne erzählt die Geschichte in zwei Ebenen: den Rückblicken auf Evans Kindheit und Jugend sowie den Szenen in der Gegenwart, in denen er vor Gericht steht, weil er die Vergewaltigung einer Frau durch seinen Freund und Teamkollegen gefilmt haben soll.
Thematisch greift der Roman vieles auf: toxische Männlichkeit, das Schweigen in Familien, die Fassade von Moral im Profisport und die Abhängigkeit vom Geld. Gerade die scheinheilige Haltung des Vereins, der sich offiziell distanziert, insgeheim aber auf einen Freispruch hofft, liest sich wie ein bitterer Kommentar auf Macht und Doppelmoral.
Boynes Sprache bleibt kühl und knapp, was hervorragend zum Protagonisten passt, der nie gelernt hat, Gefühle zu zeigen. Diese Nüchternheit macht das Buch gleichzeitig bedrückend und eindrücklich. Evan selbst ist für mich eine eher ambivalente Figur: Man versteht ihn, ohne ihn aber wirklich zu mögen.
Kritisch anzumerken ist, dass "Erde" noch mehr Tiefe vertragen hätte: Manche Nebenfiguren blieben blass, und das Ende kommt fast zu schnell. Dennoch überzeugt der Roman durch seine Präzision und thematische Schärfe.
Mein Fazit: Ein intensiver, bedrückender Roman über toxische Strukturen im Sport und die Folgen einer Kindheit ohne Zuneigung. Empfehlenswert für alle, die gesellschaftskritische, knappe, auf den Punkt erzählte Romane schätzen.