3,5 aufgerundet auf 4 - Unterschiedliche Textsorten von 1960-2025: Erzählungen, Vorträge, Aufsätze, Vignetten, Essayartiges, Lyrisches
Helga Schubert präsentiert uns in dieser Collage ihres Lebens 'Geschichten vom Übergang' - wie sie es selber nennt (10) - unterschiedlichste Texte aus einem Lebensraum von 65 Jahren, doch nicht chronologisch: Privat-Familiäres, versteckt oder offen Politisches, Schriftstellerisches. Ein Verzeichnis am Ende gibt Auskunft über das Veröffentlichungsjahr der Texte bzw. ob sie überhaupt veröffentlicht waren, denn schließlich lebte Helga Schubert in einer Diktatur mit Zensur. Diese Angaben hätte ich mir gleich am Anfang des jeweiligen Textes gewünscht, um nicht immer nachschlagen und vergleichen zu müssen.Wie es bei bunt zusammengewürfelten verschiedenen Textsorten oder auch Erzählbänden immer ist, gefielen mir einige Texte gut, andere weniger. Manche fand ich nichtssagend oder langweilig, einige sehr distanziert geschrieben oder rätselhaft. Manche erschließen sich erst nach zweimaligem Lesen oder wenn man darüber nachdenkt. Dieser Textband eignet sich also nicht zum Hintereinander-Weglesen.Am besten gefallen haben mir die beiden lyrisch anmutenden Texte am Anfang und Ende des Buches, die an diesen Stellen passend platziert sind und die man sogar als Anregung für eigenes Schreiben nutzen könnte: Im 'Lebenstopf' - geschrieben mit 20 Jahren! - vermitteln eine Menge kreativ zusammengesetzter Wörter in verdichteter Sprache eine Fülle von Erlebnissen und Eindrücken. Er quillt schon in jungen Jahren über, ihr Lebenstopf. Einiges bleibt dem Leser jedoch rätselhaft. - Der ebenfalls lyrische Text am Ende klingt versöhnlich und listet die 'Lieblingsstunden' auf, bildhaft beschriebene Sinnesgenuss aus dem Alltag. Ich picke noch einige Texte heraus. Da ist z.B. die biografische Titelgeschichte 'Luft zum Leben', die schonungslos ehrlich und ungeschminkt vom allzu frühen Muttersein berichtet, von der Geburt des Sohnes bis sie ihn quasi an die Freundin 'abgibt', von den Fehlern, die sie gemacht hat. Dennoch haben Mutter und Sohn ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander aufgebaut.In 'Knoten' berichtet sie von ihrer und anderer Krebserkrankungen, von Verzögerungstaktiken sowohl beim Schreiben darüber als auch bei ärztlichen Untersuchungen. Sie vermittelt überlegenswerte Gedanken zu Krankheit und Tod und auch der Titel 'Knoten' hat möglicherweise eine übertragene Bedeutung. Diese Möglichkeit der Interpretation über Das Eigentliche hinaus findet man in einigen Texten.Ein anderer - 'Ein Opfer der Literatur' - wirft die Frage des Vertrauensmissbrauchs auf und die Frage, wie weit ein Schriftsteller in Bezug auf die Beschreibung anderer Personen gehen darf.Es gibt Gedanken zur Stellung der Frauen in der DDR, eine Charakterisierung der typischen Diktatur und ihre Einstellung zur Literatur.Das alles berichtet, beschreibt und erzählt die Autorin in teilweise reduzierter, lakonischer Sprache, mit Wiederholungen, unvollständigen und kurzen Sätzen mit oft gleichen Anfängen, was als 'der typische Schubert-Sound' bezeichnet wird. Ich muss zugeben, meine Vorliebe tendiert in eine andere Richtung und ich habe mich manchmal mit der einfach klingenden Sprache schwer getan.FazitFand ich anfangs nur schwer Zugang zu diesem Buch, so habe ich doch nach und nach seine versteckten Qualitäten entdeckt: die vielen Gedankenanregungen zu Themen des Lebens und die immanente Kritik am politischen System. Mein Gesamteindruck ist, dass Helga Schubert sich zwar mit dem DDR-Regime arrangiert hat, aber doch unter den Repressionen, der ständigen Überwachung und der Zensur gelitten hat. Wie sie selbst sagt - 'Bin wirklich ein altes Schreibtier' (7) - wollte sie sich mit ihren Texten ihrer Welt vergewissern (9).Dieses Buch wird nicht jedem gefallen. Man sollte über einige Geschichten hinweglesen wollen, andere zweimal lesen, bereit sein, innezuhalten, um nachzudenken und auch ihren unterkühlten lakonischen Stil muss man mögen. Ich denke, dass man aus einigen Texten richtig gute Erzählungen hätte machen können. Aber das ist wohl nicht Helga Schuberts Art zu schreiben.