Emily ist manchmal übrig wie ein Stück Brot - ihre Mutter fliegt im wahrsten Sinne des Wortes lieber in der Weltgeschichte herum, statt sich um ihre Tochter zu kümmern. Auch ihre Großmutter Sabine kann mit ihrem Enkelkind wenig anfangen. Einzig bei ihren Urgroßeltern kann Emily Kind sein, jedoch mit Einschränkungen, die sie nicht verstehen kann. Warum gibt es in dieser Familie so viel emotionale Kälte und so viel Schweigen ?Erst als Emily älter wird, erhält sie Antworten auf ihre bohrenden fragen, die ihr niemand beantworten will, denn Emily versucht auf eigene Faust, ihre Familiengeschichte aufzuklären. Sie ahnt nicht, was sie alles zum Vorschein bringen wird....Sabine Abel hat mit "Du misst meine Hand fester halten, Nr. 104" einen sehr eindringlichen und emotionalen Roman vorgelegt, der Wahrheit mit Geschehnissen, die so nicht stattgefunden haben ,zu einer neue gelebten Realität verwebt. Dabei beweist sie ganz viel Fingerspitzengefühl wenn es darum geht, die Missstände in den Kinderheimen im Nachkriegsdeutschland aufzuzeigen.Statt christlicher Nächstenliebe praktizieren die Nonnen Misshandlungen und Missbrauch jeglicher Art an den ihnen anvertrauten Jungen und Mädchen, brechen somit ihre kleine Kinderseelen. Die Rückblenden sind grausam, die schockierenden Ereignisse ätzen sich wie Säure ins das Herz der Lesenden und manchmal fällt es unglaublich schwer, die Bilder loszulassen.Abel gelingt es, ihre Leser;innen an die Seiten zu fesseln, um hautnah mitzuerleben, wie die Traumata der Kindheit von Hardy und Margret unbewusst auf die nachfolgenden Generationen vererbt werden, die Familiengeschichte immer wieder negativ beeinflussen und subtile Verhaltensmuster prägen, die nachhaltig das Leben alle Familienangehörigen bestimmen. Die Schreibende findet immer den richtigen Ton für diese sensible Thematik , hat akribisch recherchiert und kreiert somit eine Geschichte, die lange nachwirkt.Ihre Figuren sind authentisch, sehr nahbar und erzählen nicht nur ihre Vita, sondern vermitteln den Lesenden, dass sie eben jetzt in diesem Augenblick an ihrer Seite stehen, alles hautnah mit erleben, mitfühlen und verarbeiten können/dürfen/müssen.Dabei wächst Emily über sich hinaus und wird fast zur Überfigur, was manchmal nicht ganz so glaubhaft wirkt. Das Mädchen scheint die ganze Last der posttraumatischen Erlebnisse auf ihren Schultern zu tragen, zieht die Fäden im Hintergrund und deckt nach und nach alle Geheimnisse auf. Daher wirkt das Ende auch m.E etwas kitschig und unpassend, denn plötzlich haben sich alle lieb und Ungesagtes wird ausgesprochen. Das Gedankengefängnis wird aufgebrochen und Hardy kann endlich seine Selbstzweifel und Ängste, sein Gefühl der Wertlosigkeit und die Fragen nach dem "Wer bin ich wirklich ?" abstreifen bzw. lösen.Die Handlung ist fesselnd geschrieben, geht unter die Haut und beweißt, dass noch lange nicht alle Geschichten unserer Vorfahren erzählt sind, um die Kriegs- & Nachkriegsgeneration zu verstehen. Abel legt einen wichtigen Grundstein, um die Gespenster der Vergangenheit aus ihren Ecken zu holen und betreibt mit ihrem neuen Buch wichtige Aufklärungsarbeit.