Besprechung vom 11.10.2025
Dem Tod ins Auge sehen, ohne zu blinzeln
In seinem Roman "Die Sonne und die Mond" wandelt Chris Kraus an der Abbruchkante des Lebens entlang - mit Witz und Ironie.
Von Wolfgang Schneider
Von Wolfgang Schneider
Totenbäckerei - so lautet der teaminterne Name für das Bestattungsinstitut "Sommernachtstraum" am Prenzlauer Berg, dessen Geschäftsräume einst eine Bäckerei beherbergten. Wer dort arbeitet, hat ein vertrautes Verhältnis zum "Gevatter", wie der Tod altertümelnd genannt wird, obwohl man auf der Höhe der Zeit ist und die Kundschaft mit "alternativen" postreligiösen Formen der Begräbniskultur beglückt.
Geleitet wird das kleine Unternehmen, das den Mittelpunkt des Romans bildet, von der zweiundvierzigjährigen Sonja Meling, Spitzname "Sonne", auch wenn schon viel Schatten auf ihr Leben gefallen ist. Ihr Vater hat sich erhängt - für sie als Jugendliche ein ebenso prägendes Erlebnis wie für ihren treuen Mitarbeiter Samuel die Entscheidung seines Vaters, sich von einem Zug zerfetzen zu lassen. Der Tod ist allgegenwärtig in diesem Roman, und das beginnt schon mit der Widmung. Der Schriftsteller Chris Kraus hat vor zwei Jahren seine Frau, die Filmeditorin Uta Schmidt, an eine kurze, heimtückische Krankheit verloren. Indem er diesen Roman an der Abbruchkante des Lebens angesiedelt hat, hat er sich aus dem Abgrund herausgeschrieben. Seine Frau habe "ihren feinen Humor behalten bis zum letzten Atemzug", hat er in einem Interview gesagt. Diese Erfahrung, dass Humor auch das Sterben leichter machen kann, bestimmt den Ton des Buches.
Bevor er Romane schrieb ("Das kalte Blut"), hat der 1963 geborene Kraus sich einen Namen als Drehbuchautor und Filmregisseur gemacht ("Vier Minuten", "Die Blumen von gestern"). Auch in "Die Sonne und die Mond" gerät der erste Auftritt der zweiten weiblichen Hauptfigur filmreif: Jana von Mond, eine prominente, inzwischen etwas abgehalfterte, von Migräne geplagte Comedy-Diva ("die Mond"), fährt mit dem Taxi beim Bestattungsinstitut vor und erbricht sich erst einmal in eine Urne. Dann schildert sie ihr Problem: Ihr Ehemann Said ist mit seiner Geliebten Ying Shu in Italien tödlich verunglückt. Nun sind ihr die Paparazzi auf den Fersen, und Sommernachtstraum ist das Bestattungsinstitut ihres Vertrauens. Denn Sonja und Jana waren einmal allerbeste Jugendfreundinnen. Aber Jana hat nicht nur einen heiklen Auftrag (sie möchte, dass ihr Mann mit seiner Geliebten in einem Grab beerdigt wird), sie sucht auch Unterschlupf vor der Medienmeute bei Sonja, braucht eine Auszeit.
Nur mit grollendem Widerwillen lässt Sonja zu, dass Jana in ihre privaten und beruflichen Verhältnisse eindringt. Vor vielen Jahren hat "die Mond" sie schmählich im Stich gelassen, um selbst zum Star zu werden - in langen Rückblenden erzählt der Roman von gemeinsamen Ambitionen, missbrauchtem Vertrauen und ruinierter Freundschaft. Kaum erstaunlich, dass die zurückgekehrte Jana das mühsam errungene Lebensgleichgewicht von Sonja wieder aus der Balance bringt, indem sie nun bei "Sommernachtstraum" vorübergehend vom Fernsehstar zur Bestattungsassistentin mutiert. Es ergibt sich ein heikles Dreiecksverhältnis. Denn Sonjas entsexualisierte Freundschaft mit ihrem Seelenverwandten und Mitarbeiter Samuel, der auch der verheimlichte Vater ihres Sohnes Nicky ist, leidet darunter, dass die erotische Spannung zwischen ihm und Jana immer knisternder wird. Sonne und Mond geraten auf den finalen Kollisionskurs.
Kraus liest seinen Roman so passioniert, wie er geschrieben ist. Er hat eine unaufdringliche, freundliche Stimme. Für den liebenswert altklugen Nicky, ein ernstes, von einer schweren chronischen Krankheit gezeichnetes Kind, verwendet er einen hellen Naivitätston, bisweilen überrascht er aber auch mit komödiantischem Rollenspiel, etwa beim Dialog Sonjas mit dem beflissenen Signore Zega, einem italienischen Bestatterkollegen. Oder beim Beratungsgespräch mit der stark berlinernden Frau Mutzke, die ihre letzten Wochen im Hospiz verbringt, bevor sie "die Flocke macht". In ihrem Fall läuft das auf eine sogenannte "Reerdigung" hinaus - in vierzig Tagen wird ihr Körper in einem Biotank von Mikroorganismen zu bestem Mutterboden umgewandelt.
Unter all den zugewandten und sensiblen Menschen braucht es auch einen Unsympathen. Diese Rolle übernimmt Janas Manager Fredo Lagrande, ein schwerer Fall von Typenkomik - es reicht schon der Blick auf sein Anglerfischgebiss "mit den riesigen oberen Schneidezähnen im Unterkiefer und den winzigen unteren Schneidezähnen im Oberkiefer. Inzwischen sah er aus wie ein Ork." Allerdings liest Kraus ihn nicht mit tiefkehligem Ork-Gegrunze, sondern mit dem klebrigen Ton falscher Vertraulichkeit.
Der Roman hat viele realistische Details, ist dicht an der Gegenwart angesiedelt und wirkt doch nicht ganz von dieser Welt. Nicht zufällig werden zwischendrin immer wieder Märchen erzählt, denn auch in ihnen spielt der Tod eine große Rolle. Da ist das tieftraurige Grimm'sche Märchen vom "armen Jung im Grab", das Sonja einst von ihrem todessüchtigen Vater vorgelesen wurde. Und da ist eine lange, hinreißende Adaption von "Schneeweißchen und Rosenrot", auf die das Psychodrama von Sonne und Mond hinausläuft, als Spiegelung, die eine heilsame Wirkung auf den Konflikt entfaltet. Es ist ein Märchenfinale, das seine höhere Wahrheit hat. Weil das Makabre hoch dosiert ist, lässt man sich als Gegengewicht auch das Gefühlvolle, am Ende sogar ein wenig Rührselige gefallen.
Bisweilen erinnert das Hörbuch an Bestatter-Serien wie "Six Feet Under" oder "Family Plots". Auch im realen Leben hat der Beruf Zulauf, Samuel staunt einmal über die vielen Praktikantinnen. Es liege wohl an all den Krisen und Kriegen, der Horizont verdüstert sich, "und selbst die Coolsten spüren die Nähe des Herrn Gevatters". Als Bestatter könne man beruflich "an sinnstiftender Melancholie" und der "Life-Death-Balance" teilhaben, die dieser Roman trotz einiger Längen beeindruckend in Szene setzt.
Chris Kraus: "Die Sonne und die Mond". Roman.
Ungekürzte Autorenlesung. Diogenes Verlag, Zürich 2025. 858 Min., Download,
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