Besprechung vom 11.09.2025
Ein Liebeslied für das queere London
Vielstimmig und perfekt komponiert: Christina Fonthes' großer Debütroman "Wohin du auch gehst"
Zwei Frauen, zwei Generationen, zwei Lebenswege und zwei sehr verschiedene Lebensentwürfe: Die Ältere folgt herkömmlichen Rollenbildern, lebt angepasst und glaubensstreng und ganz einem evangelikalen Prediger ergeben, der einer wachsenden Erweckungsgemeinde vorsteht, tief ins Privatleben von deren Mitgliedern eingreift und ihnen abverlangt, dass sie bei den Gottesfeiern Zeugnis ablegen, das heißt ihr Innerstes nach außen kehren. Die Jüngere dagegen will sich abgrenzen, ihr Inneres nicht ständig offenbaren müssen, sondern vor dem Zugriff anderer schützen; sie ist lesbisch, und sie weiß, dass dies in der Community verachtet und geächtet wird, da es als sündhaft, teuflisch und "unafrikanisch", wie es allgemein heißt, gilt. Und doch haben beide Frauen, wie sich bei der Lektüre immer deutlicher herausstellt, mehr gemeinsam, als man meinen sollte.
Mira wächst in den Siebzigerjahren in Zaire auf. Sie ist neun, als in Kinshasa, ihrer Heimatstadt, der Boxkampf der amerikanischen Schwergewichtler George Foreman gegen Muhammad Ali stattfindet, jener weltweit umjubelte "Rumble in the Jungle", aus dem Ali endgültig als größte Boxlegende aller Zeiten hervorgeht. Das war 1974, als sich das Land unter dem selbstherrlichen Diktator Mobutu als afrikanische Nation neu erfindet. Die Musikszene boomt. Mira stammt aus gut situiertem Hause, doch stiehlt sich nachts davon und folgt ihrer Freundin in die angesagten Clubs. Dort lässt sie sich mit einem jungen, aufstrebenden Musiker ein und bemerkt bald, dass sie schwanger ist. Daraufhin muss sie, noch Teenager, das Land verlassen, um sich in Brüssel oder Paris eine neue Zukunft aufzubauen. Ihr Kind hat sie noch in Zaire zur Welt gebracht; die ältere Schwester wird es in der Familie großziehen.
Bijoux lebt Anfang der Zweitausender in London. Sie ist Rechtsanwaltsgehilfin, hat also einen ansehnlichen ebenso wie einträglichen Job, dem sie zuverlässig nachgeht. Sonntags geht sie schicklich angezogen mit zur inbrünstigen Gottesfeier, die ihre sittenstrenge Tante immerfort besucht. Mit Tantine Mireille lebt sie schon über ein Jahrzehnt in der Sozialwohnung im Londoner Nordosten, seit sie als Kind von ihren Eltern aus dem brennenden Zaire dorthin gebracht wurde. Sie hat sich mit der Situation arrangiert und folgt äußerlich dem frommen Lebenswandel, auch wenn ihr eigentliches Leben anders aussieht. Zur Krise kommt es, als die Tante eines Tages ihren Prediger nach Hause lädt, damit er Bijoux den Weg ins Eheleben weise und den ausersehenen Bräutigam verkünde. Unterm Tisch per SMS muss sie heimlich ihrer Freundin mitteilen, dass sie zum heutigen Date leider nicht kommen kann.
Wechselweise entfaltet der Roman diese beiden Geschichten, erzählt in szenischen Kapiteln mit wechselnden Orten und Zeiten und aus jeweils wechselnden Perspektiven. Beide Protagonistinnen bringt er uns auf diese Weise nahe, auch wenn er uns Bijoux als eigene Lebenserzählerin präsentiert und sie daher spürbar stärker für uns öffnet. Dagegen wird von Mira in der dritten Person erzählt, sodass sie lange deutlich distanzierter, undurchschaubarer, ja rätselvoller bleibt. Es dauert daher einige Kapitel, bis man die Puzzleteile ineinander fügen und erkennen kann, dass Tantine Mireille in ihren jungen Jahren Mira war, dass also die gestrenge, fromme, ja bigotte Tante selbst eine ungestüme Jugend verlebt und sich gesellschaftlichen Zwängen widersetzt hat. Und noch einige Kapitel braucht es weiter, bis man merkt - nur so viel sei an dieser Stelle preisgegeben -, dass die Familienverhältnisse ganz anders liegen, als es zunächst den Anschein hat. Der konfliktgeladenen Beziehung zwischen Mira oder Mireille und Bijoux wächst dadurch umso tiefere Bedeutung zu.
Von solchen fortdauernden Spannungen und immer neuen Wendungen lebt dieser Roman und zieht uns immer stärker in den Bann. Er entwirft ein Riesenpanorama, das sich über mehr als drei Jahrzehnte zwischen Schauplätzen in Zentralafrika und den postimperialen Zentren Westeuropas - London, Brüssel und Paris - aufspannt. Das historische Gewaltgeschehen (Mobutus Fall, die Aufstände und wechselnden Kriegsbündnisse, der Untergang Zaires und seine Auferstehung als Demokratische Republik Kongo, die anhaltenden Schlächtereien und Wirren wie auch Konflikte in den europäischen Migrationsmetropolen) bildet den bewegten Horizont und kommt doch stets nur ausschnittweise in der Wahrnehmung der beiden Frauen in den Blick. Im Fokus stehen durchweg deren Schicksale, und ihre verschlungenen Lebensfäden binden die ausschweifende Handlung wie auch das reich verzweigte Personal zusammen.
Dies ist, gradheraus gesagt, ein ungemein starkes Romandebüt. Christina Fonthes ist eine kongolesisch-britische Autorin, Jahrgang 1987, die in London lebt und dort von Meisterinnen des Erzählfachs wie Bernardine Evaristo, der Booker-Preisträgerin von 2019, gelernt hat. Ihre Prosa ist gradliniger, weniger poetisch und verspielt als Evaristos Verse, aber nicht weniger subtil, anspielungsreich oder mehrstimmig. Die vielsprachige Lebenswelt ihrer Figuren - das Französisch oder Englisch, mit dem sie sich verständigen, ist beständig von Lingala, wie man es in Kongo spricht, durchsetzt - lässt Fonthes erstaunlich lebendig werden, und die Übersetzerin Michaela Grabinger leistet Großes, um dies auch im deutschen Text erfahrbar werden zu lassen.
Lauter große Themen geht der Roman an. Von Familienzwang und Aufbegehren erzählt er, vom Aufwachsen und Ausbrechen, von Neuanfängen sowie Heimsuchungen, von hochfliegenden wie enttäuschten Hoffnungen, von Aids und Krieg, von Gottesliebe, queerer Liebe, Kinderliebe, von Kulturschock, Anpassung und Aneignung wie auch von der zweiten Chance, die es im Leben braucht, wenn es fatale Sackgassen zu öffnen gilt. Man möchte meinen, dass dies zu viele heiße Eisen für eine Geschichte sind. Doch auf wunderbare Weise gelingt es dem Roman zumeist durch kluge Reduktion, Andeutung oder Fokussierung, sie überzeugend zu vermitteln, über weite Strecken anrührend und echt bewegend. Nur gegen Ende mag sich bisweilen der Eindruck einstellen, dass die letzten Einfälle und Wendungen vielleicht doch etwas zu viel sind und besser in Fonthes' nächsten Roman eingegangen wären.
Vor siebzig Jahren hat der trinidadische Erzähler Samuel Selvon mit "The Lonely Londoners" die moderne Einwandererwelt literarisch verewigt, damals noch ganz auf die Männergesellschaft ausgerichtet, und damit eine melancholisch grundierte Ballade geschaffen (auf Deutsch 2017 unter dem Titel "Die Taugenichtse" erschienen), die bis heute nachklingt. "Wohin du auch gehst" erneuert und verändert diesen Sound und bringt darin bislang unerhörte Stimmen zur Geltung: ein Liebeslied nicht nur aufs queere Leben, sondern zugleich auf die wandlungsreiche Lebenswelt der Metropole London und überhaupt auf die notwendige Verwandlungskraft des Lebens. TOBIAS DÖRING
Christina Fonthes: "Wohin du auch gehst". Roman.
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Diogenes Verlag, Zürich 2025. 416 S., geb.
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