Mein Lese-Eindruck:
1933: Hitlers Machtergreifung führte zu großen Fluchtwellen, die sich auf den Routen nach Südfrankreich, Spanien und dann in die USA bewegten. Calic rückt hier eine eher vergessene bzw. weniger beachtete Route ins Zentrum: die Flucht über den Balkan mit dem Ziel, von einem der Seehäfen aus nach Palästina oder in überseeische sichere Länder zu gelangen. Die europäischen Länder verschlossen in den 30er Jahren ihre Grenzen für die Flüchtlinge bis auf Jugoslawien und Albanien beides wenig entwickelte Staaten, die vor allem Wissenschaftler gerne aufnahmen, um den heimischen Nachwuchs auszubilden. Die ethnische und religiöse Zugehörigkeit spielte in diesen Staaten keine Rolle, weil sie in der Tradition des Osmanischen Reichs das Nebeneinander mehrerer Religionen und Ethnien gewohnt waren und Toleranz in der Verfassung verankert war.
Calic nimmt in ihrem Buch viele Einzelschicksale in den Blick, die sie akribisch aus einer unendlichen Fülle an Primärquellen zusammenstellt: aus Tagebüchern, Briefen und Zeitungsartikeln. Der Leser begegnet bekannten Namen wie Manès Sperber, der Schauspielerin Tilla Durieux, dem Maler Richard Ziegler, dem Literaten Ernst Toller, er liest von vielen hochdotierten Wissenschaftlern wie dem Krebsforscher Blumenthal, dem Philosophen Liebert und anderen, von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten aber er liest auch von Unbekannten wie z. B. von Annemarie Wolff-Richter, die mit einem ganzen Kinderheim die Flucht antritt. Oder von Walter Klein, dessen Biografie das ganze Elend des Flüchtigen spiegelt. Walter Klein, ein junger Wiener, sitzt mit Tausenden anderer Flüchtlinge in Kladovo auf einem Seelenverkäufer auf der Donau fest, getrennt von seiner Familie, die Weiterfahrt wird ständig verschoben, weil Schiffe fehlen, und als die Donau zufriert, ist an kein Entkommen mehr zu denken. Das Entkommen wird auch aus politischen Gründen schwieriger: Jugoslawien und Griechenland werden besetzt, und weil Deutschland das rumänische Erdöl braucht, schließt Rumänien seine Grenzen für die Flüchtlingen. Walter Klein wird schließlich von der Wehrmacht erschossen.
Mit solchen Einzelschicksalen zeigt Calic die Dramatik und Tragik der Flucht über den Balkan, die nur für wenige in Palästina endete. Gleichzeitig hat sie aber die Gesamtlage und die Zeitgeschichte im Blick, und es gelingt ihr hervorragend, die sehr verwirrende Gemengelage in klaren Zügen zu vermitteln und immer mit dem Schicksal der betroffenen Menschen zu verbinden.
Das Buch wendet sich an den historisch interessierten Laien, und gerade diese Verbindung aus berührenden Einzelschicksalen und de Zeitgeschichte ist es, die das Buch zu einer wichtigen, fesselnden Lektüre machen. Diesem Buch wünsche ich viele viele Leser.