Abstoßend, widerlich, berührend, ein Meisterwerk!
Dieses Buch hat mich gleichermaßen fasziniert und abgestoßen. Ich musste immer wieder Pausen machen, weil es mich angeekelt und aufgewühlt hat - und trotzdem konnte ich nicht aufhören zu lesen.Nach dem sogenannten "Übergang" wurde das Verzehren von Menschenfleisch legal, da tierische Produkte (angeblich) von einem Virus befallen sind. Der Protagonist Marcos arbeitet in einem Schlachthof und sieht sich einem perversen System der Gewalt gegenüber, zu dessen Erhalt er mit seiner Arbeit schlussendlich beiträgt. Bazterrica zeigt, wie schnell moralische Grenzen verschwimmen, wenn ein ganzes System Gewalt normalisiert. Dass sie die Vorgeschichte - also wie die Menschheit überhaupt so weit kommen konnte - kaum erklärt, macht das Ganze für mich sogar noch gruseliger. Es ist viel beunruhigender, sich vorzustellen, dass so eine Entmenschlichung in nur einer Generation möglich wäre.Marcos, die Hauptfigur, ist facettenreich beschrieben und nimmt uns mit in eine dystopische Zeit, bei der der Wert des Individuums der kapitalistischen Gier untergeordnet ist und unter dem Vorwand von Schutz totalitäre Staatsgewalt gemeinsam mit Fleischeslust das System erhält. Sprache erfährt dabei (wie in anderen dystopischen Werken, etwa bei Orwell) eine tragende Rolle: So wird aus Menschen "Spezialfleisch" und aus dem Lebewesen ein Produkt, das "Stück".Besonders spannend fand ich die liebevolle Darstellung der Tiere - etwa die Welpenszene - im Kontrast zur völligen Kälte gegenüber Menschen. Es ist eine Umkehrung dessen, was wir als "menschlich" bezeichnen. Auch die Roboterhunde und Haustiersimulatoren haben für mich symbolisch funktioniert: Sie zeigen, dass Technik echte Nähe nicht ersetzen kann und wie sehr die Menschen in dieser Welt bereits verlernt haben, zu fühlen.Der Zoo, der Kolibri beim Tod des Vaters - das alles sind kleine, traurige Symbole für eine Welt, die ihr Lebendiges verloren hat. Überhaupt bietet das Buch an allen Ecken und Enden symbolische Figuren und Elemente, so dass sich ein mehrfaches Lesen oder Diskutieren unter verschiedenen Gesichtspunkten definitiv lohnt!Das Ende hat mich schockiert, auch wenn ich es im Nachhinein folgerichtig finde. Bis dahin glaubt man noch, dass Marcos vielleicht gegen das System aufbegehren wird. Stattdessen zeigt er uns, dass wir alle nur so lange gegen Gewalt und Ungerechtigkeit sind, wie es bequem für uns ist.Sprachlich setzt die Autorin die Sätze präzise und genau wie mit dem Tranchiermesser. Nüchtern und erbarmungslos bietet sie den Fortlauf der Geschichte Schnittchen um Schnittchen an, kein Wort ist dabei überflüssig.Ein grausames, aber beeindruckendes Buch, das mich sehr beschäftigt hat - und wohl noch lange tun wird.