Worum geht es?
Märchen bieten, gerade weil sie so kurz gehalten sind und mit typenhaften Figuren arbeiten, eine Menge Gedankenspielraum. Man fragt nach den Beweggründen der Schurken und nach den eigentlichen Wünschen der stummen Prinzessinnen, nach all dem, was unausgesprochen bleibt. Die Autorin dieses modernen Märchens hat sich dieser Aufgabe angenommen: Die Handlung wird ins 21. Jahrhundert verlegt, die Figuren werden psychologisch hinterfragt und bekommen einen Namen und einen Charakter zugewiesen. Sowohl die Beweggründe des kontrollsüchtigen Vaters, als auch die Entscheidungen der Schwestern und des mysteriösen Verehrers werden hinterfragt.
Zur Geschichte:
Einerseits ist die Geschichte sehr düster und ernst. Das beginnt schon bei der Schuldfrage, die im Prolog zur Sprache kommt. Die Monologe der Schwestern wirken wie Zeugenberichte oder wie Stellungnahmen von Tätern? Wer ist Schurke und wer ist Held? Ist es nachvollziehbar oder moralisch verwerflich, was die Schwestern tun? Ist der Vater vielleicht gar nicht der Hauptschurke in der Geschichte? Da kommen einige Krimi-Vibes auf!
Auf der anderen Seite gibt eine Liebesgeschichte: Die älteste Schwester und der neue Verehrer nähern sich an. Ein wahres Dilemma, denn Aliena muss ein Geheimnis vor dem offensichtlich sehr klugen Mann schützen. Eine Liebe, die nicht sein darf, denn der Mann ist eindeutig hinterhältig und will den Schwestern schaden, oder nicht? Die Motive von Joe Lentus bleiben bis ganz zum Schluss ein großes Rätsel. Auch hier muss man sich wieder die Frage stellen: Freund oder Feind? Schuldig oder unschuldig?
Der Erzählstil der Autorin gleicht, wenn ich einen Vergleich aus der Geschichte anführen darf, einem kontinuierlich anschwellenden Ballon. Die Spannung steigt am Anfang rapide an und verharrt kapitelweise in diesem Zustand. Man fragt sich durchgehend, wann jemand denn nun endlich Klartext spricht und den Ballon zum Platzen bringt, aber die Charaktere sind Meister im beiläufigen Sprechen. Es ist wie der Flirt zwischen Aliena und Joe, es wird zwar romantisch, aber der erlösende Kuss bleibt aus. Als Leser wird man ordentlich auf die Folter gespannt und dazu verleitet, die Geschichte an einem Stück zu lesen. Erst ganz am Ende platzt der Ballon und die Wahrheit kommt ans Tageslicht.
Zu den Charakteren:
Jede Schwester bekommt einen Namen und Charakter zugewiesen, aber die Bilder bleiben bruchstückhaft, denn man lernt nur die Gedanken der ältesten Schwester, der Protagonistin, kennen. Aliena war mir mit ihrem Beschützerinstinkt und ihrer inneren Zerrissenheit gleich sympathisch. Auch, dass sie selbst genauso wie die Autorin dieses modernen Märchens schriftstellerisch aktiv ist, fand ich sehr schön und passend: Aliena lebt nicht ihr eigenes Leben, sie lebt im Schatten ihrer Schwestern und sieht ihre Lebensaufgabe darin, dessen Glück zu erhalten. Ihre eigenen Wünsche werden übersehen. Genauso wie eine Autorin, dessen Aufgabe es ist, ihren Buchcharakteren ein Happy End zu schreiben, die aber selbst in der Geschichte nicht sichtbar ist.
Die Figur des Vaters fand ich sehr spannend. Gerade Schurken kommen in solchen Geschichten leider häufig zu kurz. Sie werden gerne einfach schnell mit dem Stempel "böse" versehen und nicht weiter hinterfragt. Die Autorin durchleuchtet die Vaterfigur nicht so stark wie Aliena und ihren Verehrer, aber hier und da leuchten seine wahren Beweggründe hindurch.
Mit der Figur des Verehrers, also mit Joe Lentus, habe ich mich am schwersten getan. Er ist und bleibt bis zu der Auflösung am Ende ein großes Rätsel. Man bekommt nur sehr wenig Infos zu seiner Person, manche davon sind widersprüchlich: So zeigt er sich beispielsweise als gesprächiger Geselle, gibt aber auch zu, dass er die Stille zwischen zwei Menschen nicht unangenehm findet. Gerade wegen den wenigen Informationen und diesen Widersprüchen habe ich Joe, seine Handlungen und seine Aussagen skeptisch hinterfragt. Für mich rückte die Liebesgeschichte deshalb in den Hintergrund, ich war eher auf Spurensuche. Am Ende werden Joes Ziele aufgedeckt und es gibt sogar ein Kapitel aus seiner Perspektive, das seine Vorgeschichte noch einmal etwas ausführlicher thematisiert. Trotzdem bleibt das Bild aus meiner Sicht unvollständig. Ich kann seine Handlungen verstehen, aber nicht zu Hundert Prozent nachvollziehen. Da bleiben ein paar Fragen offen.
Die Botschaft der Geschichte:
Das Märchen wird als Liebesgeschichte ausgewiesen, aber meiner Ansicht nach geht es um Emanzipation und Selbstfindung. Es geht um eine junge Frau, die von ihrem Vater gefangen gehalten und von ihren Schwestern in eine Rolle gedrängt wird, die sie einengt. Im Laufe der Geschichte lernt sie, sich von den Erwartungen loszulösen, ihre eigenen Wünsche zu erkennen und für ihr eigenes Happy End zu kämpfen. Sie wohnt jahrelang im Schatten und vollendet nie ein Buch, bis Joe auftaucht. Durch ihn und seine Außensicht erkennt sie, wie unglücklich sie eigentlich ist. Die meisten würden sagen, Joe rettet sie aus der (selbst auferlegten) Gefangenschaft, ich bin anderer Ansicht. Mir widerstrebt der Gedanke allgemein, dass man erst durch einen Partner das vollkommene Glück erfährt und sich selbst verwirklichen kann. Meine Interpretation: Aliena entscheidet sich nicht für den Mann, sondern für sich selbst. Sie entscheidet sich dafür, ihre Wünsche und Sehnsüchte nicht länger zu unterdrücken und sichtbar zu werden.