"Schon seltsam, was für eine Macht Worte haben können. Was sie in Menschen auslösen. Welche Charakterzüge sie aus ihnen herauskitzeln. Da schlägt dann plötzlich jemand zu, der sonst keiner Fliege etwas zuleide tut. Nur weil irgendjemand irgendwas geschrieben hat. Wahrscheinlich die Wahrheit."
Der Jugendroman Das Gegenteil von Hasen von Anne Freytag hat mich von Anfang an begeistert mit seinem eindringlichen Schreibstil sowie mit der sensiblen und zugleich spannenden Umsetzung des Themas Mobbing.
Julia, Marlene und Leonard gehören zu den beliebtesten Kids an der Schule. Dagegen spielen Edgar, Linda und Momo in einer anderen Liga, obwohl sie alle demselben Jahrgang angehören.
"Manchmal glaubt Edgar, dass es Menschen wie ihn hauptsächlich deswegen gibt, damit man die Besten mit irgendwas vergleichen kann. Den gäbe es nur die Besten, wären sie ja Durchschnitt und damit nicht die Besten, sondern einfach normal. Wenn man diesen Gedanken einmal zu Ende denkt, macht eigentlich erst er sie zu etwas Besserem. Dementsprechend findet Edgar, sie sollten Leute wie ihm dankbar sein. Aber das sind sie nicht. Er schätzt, dafür sind sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt."
"Edgar hat eigentlich nichts gegen seine Welt. Er wollte nie einer von den Beliebten sein. Zumal er gar nicht weiß, warum man sie so nennt. Beliebt. Wenn überhaupt, mögen sie sich untereinander - und nicht einmal da ist er sich sicher. Alle anderen fürchten sie nur. Die hässliche Fratze unter der Oberflächlichkeit. Sie sind mächtig, nicht beliebt. Und doch wirken sie so. Dieses kleine Bisschen schöner, das kleine Bisschen besser, so als würde in ihrer Mitte mehr gelacht, lauter gefeiert und intensiver gelebt als bei den Normalen. Die sind nur der Dunstkreis, in dem sie sich bewegen. Wie ein Spucknebel um sie herum."
Dann geschieht etwas, das alles verändert. Julias Internet-Tagebucheinträge, die bisher auf privat gestellt wurden, werden öffentlich zugänglich gemacht. Der Link zu den Einträgen geht sofort viral. Julias ungefilterte, intime Gedanken können von allen gelesen werden.
"Julia hat sich oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn man alles laut sagen würde, was man denkt. Wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt und keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer. Und in ihrer Vorstellung war das irgendwie befreiend gewesen. So, als würde man erst dann wirklich zu sich selbst stehen, wenn man seine Meinung laut ausspricht. Aber in diesem Moment wird ihr klar, dass das eigentlich Besondere an Gedanken ist, dass man sich aussuchen kann, mit wem man sie teilt - und ob man es tut. Nicht wie sein Äußeres, das jedes sehen kann, ganz einfach, weil es da ist."
Julias Blog-Einträge zeigen ein ganz anderes Bild des so beliebten Mädchens - und das verändert nicht nur Julias Leben von einer Sekunde auf die andere, sondern auch die von Edgar, Linda, Leonard und Marlene.
"Edgar schluckt. Vordergründig steht er aufrecht vor Julia, doch innerlich ist er längst zu Boden gegangen. Er war nicht vorbereitet gewesen auf diesem Kampf. Auf die Härte ihrer Meinung über ihn. Julia hat in zu einer Figur gemacht in einem Spiel, von dem er die Regeln nicht kennt."
Niemand weiß, wer hinter dieser Aktion steckt. Es gibt viele Vermutungen und mögliche Verdächtige, die ein Motiv haben könnten. Während nicht nur Julia, sondern auch die Schulleitung versuchen, Klarheit in die Sache zu bringen, passieren noch jede Menge andere Sachen. Als Leser*in fiebert man immer mehr mit, es ensteht eine regelrechte Sogwirkung.
Anne Freytags Erzählperspektive wechselt kapitelweise zwischen den wichtigsten Personen, dazwischen gibt es immer wieder Ausschnitte aus einem Befragungsprotokoll der Schulleitung, ebenso Auszüge aus Julias Blogeinträgen. Die Stimmungslage der allgemeinen Schülerschaft fließt in kurzen Absätzen mit der Übeschrift Die Anderen mit ein.
Die gesamte Handlung erstreckt sich nur über eine Woche, aber durch die verschiedenen Perspektiven schafft die Autorin ein wirklich komplexes und zugleich spannendes Szenario.
Die Charaktere sind sehr authentisch getroffen. Ich fand es zudem interessant, wie man seine Meinung im Verlauf der Geschichte über die/den eine*n oder andere*n noch änderte...
Die Auflösung, wer hinter der Veröffentlichung der Tagebucheinträge steckt, ist dann einigermaßen überraschend - und doch irgendwie so klar. Ein geschickter Schachzug der Autorin.
"Wenn ich mir ansehe, was ich getan habe, schäme ich mich ein bisschen dafür, aber nicht genug, um es zu bereuen. Diese Einträge zu veröffentlichen war kein Fehler. Manche Dinge gehören ausgesprochen, sonst erstickt man daran."
Mobbing hieß vielleicht noch nicht immer so, doch gegeben hat es das immer - nur die Art und Weise, wie es abläuft, hat sich im Laufe der Jahre verändert.
"'Weißt du, normalerweise funktioniert Mobbing wie ein Schwelbrand. Es ist etwas, wovon man an der Oberfläche nur wenig mitbekommt, manchmal sogar gar nichts.' Sie macht eine Pause und sieht ihn an. 'Aber diese Einträge sind wir ein Brandbeschleuniger.' Kristin dehnt ihr Genick, doch es will einfach nicht knacken. 'Ich meine, ich wusste, dass Mobbing ein Thema ist, natürlich wusste ich das, aber die Ausmaße sind heutzutage noch mal was ganz anderes als früher '
'Du meinst, durchs Internet?'
Kristin nickt. 'Alles ist anonym und viel zu schnell. Als wäre es ein rechtsfreier Raum. Zu meiner Zeit hätte man sich wenigstens noch die Arbeit machen müssen, Tagebucheinträge zu kopieren und sie dann heimlich mit Tesa überall in der Schule hinzukleben. Man hätte tatsächlich etwas tun müssen. Rausgehen und sich der Gefahr aussetzen, erwischt zu werden.'
"Kristin erinnert sich gut daran, wie sich zu wenig Freunde anfühlen. Und wie es ist, wenn mehrere Individuen zu einem Mob werden und im Kollektiv vergessen, wer sie sind. Keiner von ihnen ist im Einzelnen schlecht. Nur in der Kombination. So, als würden sie chemisch miteinander reagieren."
Alle, die mit Mobbing (auf welche Art auch immer) schon Erfahrungen gemacht haben, dürften sich in diesem Buch sicher auf unterschiedliche Weise wiederfinden, vielleicht auch getriggert werden. Dennoch ist es ein überaus wichtiges Thema und ich finde es großartig, wie Anne Freytag das hier umgesetzt hat. Zusätzlich geht sie auf weitere wichtige Themen wie familiäre Probleme, erste Liebe und Enttäuschungen, Outing, Sexualität, Schönheitsideale und anderes ein, ohne das das Buch überladen wirkt.
"Die Wahrheit ist: Menschen glauben das, was sie glauben wollen. So funktionieren wir. Wir sind Rudeltiere. Wenn genug Leute in eine Richtung rennen, rennt der Rest hinterher. Wir orientieren uns an dem, was der Großteil tut oder denkt. Nicht an uns selbst, nicht an unseren Werten oder dem, was wir moralisch richtig finden. Sondern an dem, was man uns beigebracht hat. Das Kollektiv ist unser Richtwert. Aber das, was man einem Fischschwarm nicht vorwerfen kann, kann man Menschen vielleicht auch nicht vorwerfen. Wir sind nun mal empfänglich für Lügen, die in unser Weltbild passen."
Auch wenn der Roman als Jugendbuch eingestuft ist, habe ich mich als Erwachsene genauso gut mit den Charakteren identifizieren können. Dies war mein erstes Buch der Autorin, aber ganz sicher nicht das letzte!
Von mir gibt es hier eine ganz klare Leseempfehlung!