Eines Morgens erwacht Toni nicht wie gewohnt neben ihrem langjährigen Freund in ihrer kleinen Altbauwohnung, weil die Dielen knarren und die Nachbarn viel zu laut sind. Nein. Zu ihrer Verwunderung befindet sie sich in einer großzügig geschnittenen Wohnung. Alles hell, ordentlich, teuer eingerichtet. Und der Blick aus dem Fenster? Seltsam vertraut. Antonia versteht: Sie ist wieder in dem Dorf ihrer Kindheit. Nach und nach erfährt sie, dass sie hier ein beschauliches Leben führt, bürgerlich geordnet, mit Auto vor der Tür, Schwiegermutter nebenan und Kind auf dem Schoß. Kind auf dem Schoß? Antonia kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ist das etwa ihr Baby? Und der Vater dazu? Offenbar ihre erste große Liebe ein Mann, den sie nie ganz vergessen konnte.
Anne Sauer erzählt davon, wie das eigene Leben verlaufen könnte, hätte man die eine entscheidende Abzweigung nicht genommen.
Die Autorin spiegelt dabei eine ganzheitliche Sichtweise von Frauen im gebärfähigen Alter wider sie thematisiert Kinderwunsch, Kinderlosigkeit, Fehlgeburten sowie den sozialen Druck auf Mütter. In zarten Tönen zeigt sie die Schwierigkeiten in Beziehungen auf, die sowohl bei unerfülltem Kinderwunsch als auch bei der Überforderung mit Elternschaft der Kinderhaftigkeit entstehen können. Ich fühlte mich gesehen von der Autorin, die mit Feingefühl und leiser Sprache das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Erwartung und individuellem Empfinden beleuchtet.
Ein Satz blieb besonders bei mir hängen: Sie ist nicht allein, sie ist nur für sich. Diese Worte fassen die stille Stärke und zugleich die Einsamkeit vieler Frauen treffend zusammen.
Ich konnte beiden Versionen der Frau Toni und Antonia viel abgewinnen, und Anne Sauer schaffte es, für beide Leben einen Perspektivwechsel zu ermöglichen. Sie urteilt nicht, sondern öffnet Türen zum Verstehen.
Im Leben nebenan ist kein lautes Buch, aber ein wichtiges. Es öffnet Räume für Empathie, für stille Trauer und für Hoffnung ohne zu moralisieren. Ein Roman, der lange nachhallt.