...wobei die Bulimie eigentlich erst später dazukommt. Am Anfang sind es nur Fressattacken, das Übergeben ein natürlicher Reiz, wenn der Magen schließlich zu voll ist. Wie das mit dem Kotzen geht, weiß Anna lange Zeit nicht, ist aber immer gewillter, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Denn es würde so vieles einfacher machen: die Kontrolle wäre zurück, das Völlegefühl weg, die Kalorien sowieso. Also lernt Anna, über viele Jahre. Mit 14 Jahren, mitten in der Pubertät, beginnt die Essstörung und begleitet sie ungefähr, bis sie 27 Jahre ist. Dazwischen gibt es manche gute Tage, an denen Liebe und therapeutische Begleitung helfen, und sehr viele schlechte Tage. Tage, an denen Anna immer weiter in die Spirale aus Fressen und Kotzen gelangt, in denen ihr Selbsthass grenzenlos wird, in denen sie sich Drogen und bedeutungslosem Sex hingibt, nur um irgendetwas zu spüren......sie kann doch nicht immer weiteressen und kotzen, fressen und kotzen, bis sie daran stirbt.(S. 202)Barbara Riegers RomanFriss oder Stirbistein schmerzhafter Roman über eine langwährenden Essstörung, über eine Protagonistin, die sich vor Selbsthass schrittweise selber zerstört und in einem in vielerlei Hinsicht toxischen Umfeld gefangen ist.Da ist die reservierte Mutter, die von der Tochter verlangt, ähnlich gut zu funktionieren, wie sie es seit Jahren trotz Schicksalsschlägen tut; da sind die Freundinnen, die nie nein zu Partys mit Alkohol und Drogen sagen; da sind die vielen Männer, die sehen, dass Anna kaputt ist, denen schneller, unkomplizierter Sex aber vor Fürsorge und Mitgefühl geht. Es ist eine Geschichte, die nicht ohneTrigger-Warnung auskommt, denn sie ist heftig, sie ist nah, sie ist über den Großteil der knapp 220 Seiten hoffnungslos, bedrückend, abstoßend.Dabei ist es zugleicheine Geschichte, die literarisch sehr gut gemacht ist.Barbara Rieger zeichnet die Krankheit als schleichenden Prozess, die schließlich überhandnimmt, ohne dass Anna es wirklich realisiert; in dem Moment, in dem sie zur Einsicht gelangt, ist es schon zu spät, die Krankheit ist zum Lebensmittelpunkt geworden. IhreSprache ist eindringlich, durchaus poetisch, und obwohl man merkt, dass jedes Wort mit Bedacht gewählt wurde, wirkt der Text nicht artifiziell, sondern authentisch, an der Figur. Besonders hervorzuheben ist derRhythmus des Textes, der einen nicht nur mitreißt, sondern bei der Lektüre tatsächlich einpeitscht. So rasend wie der Stil ist während des Lesens der eigene Herzschlag, immer wieder braucht man Pausen, umdem Gefühl zu entkommen, gemeinsam mit Anna unterzugehen.Der Selbsthass ist das Erste, was sie wieder fühlt, der Selbsthass ist der Grund, warum sie immer weiteressen muss, wenn sie einmal damit angefangen hat, tagelang, heimlich, bis sie irgendwann wieder aufhören, bis sie den Selbsthass aushalten und wieder von vorne anfangen kann zu leben.(S. 97)Friss oder Stirb ist eines dieser Bücher, die ungemein wichtig sind und die man trotzdem nicht wirklich weiterempfehlen mag. Die Autorin schreibt gut und angemessen über das Thema, der Roman sensibilisiert und schafft es, Nähe aufzubauen, indem man Anna kapitelweise durch die 13 Jahre ihrer Krankheitsgeschichte begleitet. Dennoch ist eskeine schöne Lektüre- und will das natürlich auch überhaupt nicht sein! Alle Zartbesaiteten sollten einen Bogen um den Roman machen; ich halte mich für eine Leserin, die einiges wegstecken kann, jedochhabe ich mir selten so sehr ein hoffnungsvolles Ende herbeigesehntwie bei der Lektüre vonFriss oder Stirb. Barbara Rieger konnte mich jedoch insgesamt und trotz kleiner Kritikpunkte (das abrupte Ende, die Verengung auf die Mutter als "die Böse") auch mit ihrem zweiten Roman nach dem DebütBis ans Ende, Marievollends überzeugen. Ich bin gespannt auf weitere radikale Geschichten aus der Feder der Autroin.