'Her words are stepping stones, and some are under water' (Elizabeth Knox).Besser könnte man nicht sagen, welche versteckten Bedeutungen es unter der Oberfläche gibt. Das stellt höchste Anforderungen an die Leser: aufmerksam lesen, innehalten, nachdenken, vielleicht sogar zweimal lesen, um alles besser verstehen und einordnen zu können. Ich will nicht verhehlen, dass es anfangs Schwierigkeiten geben kann, die Personen und ihre Beziehungen zueinander zu sehen und die vielen Wörter und Sätze in Te Reo Maori machen es nicht gerade leichter, auch wenn man sie hinten im Glossar nachschlagen kann.So wie der Titel Au¿ klingt, so seine Bedeutung: Oh je, oh weh - klagen, weinen, heulen. Und dazu haben die Personen allen Grund. Die Mitglieder einer Maori-Familie sind gleich mehrfach vom Unglück betroffen, von Verlust und Tod.Der 17-jährige Taukiri bringt seinen 8-jährigen Bruder Arama/Ari zu Tante Kat, weil die Eltern ums Leben gekommen sind. Erst nach und nach wird klar, in welchen Verwandtschaftsverhältnissen sie alle zueinander stehen und was genau passiert ist. Auch wie sich der kleine Ari fühlt, als sein Bruder mit schlechtem Gewissen wegfährt, wird dem Leser mit unbedeutend klingenden Sätzen vermittelt, streng nach dem Grundsatz'show don't tell'.Tante Kat ist zwar eine liebevolle Frau, aber wegen der verbalen und körperlichen Gewalt durch ihren Ehemann Stu kann sie dem sensiblen, einsamen Ari, der auf die Rückkehr seines Bruders hofft, nicht den Trost geben, den er braucht. Er fühlt sich wie ein Vogelbaby, das aus dem Nest gefallen ist und erinnert sich an die, die Taukiri einst mitbrachte und pflegte.'Es gab einen, der überlebt hatte. Ich erinnere mich, dass einer davonflog. (159) - 'Ich war mir selbst überlassen und das war es, was es bedeutete, ein Waisenkind zu sein.' (147)Ergreifend die immer wieder kehrenden Szenen, wo er versucht, die wunden Stellen seiner Seele äußerlich mit Pflastern zu heilen. Zum Glück gibt es aber auf der Farm nebenan den alleinstehenden Vater Tom Aiken mit der 8-jährigen Beth und dem Hund Lupo, für Ari Trost und Stütze.Alles wird in kurzen Kapiteln aus den Perspektiven der beiden Brüder erzählt, denn auch Taukiri ist nicht so herzlos, wie er erscheinen möchte. Er ist tief traumatisiert und halbherzig auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter, an die er mit großen Vorwürfen denkt. Seine seelischen Verletzungen, seine Instabilität machen ihn anfällig für das kriminelle Drogenmilieu, mit dem er in Kontakt kommt.Was es mit seinen leiblichen Eltern auf sich hat, ob er sein Trauma und seine Sprachlosigkeit überwindet, ob er zu seiner Familie zurückkehrt, ob er seine Mutter findet, das alles muss man selber lesen, muss es sich in kleinen Puzzleteilchen aus dem Text klauben und zu einem Bild zusammensetzen. Es sei nur noch verraten, dass es zum Ende hin einen für mich unerwarteten spannenden Showdown gab und dass ich den Schluss als realistisch abgerundet empfand.FazitFür mich ist dieses Buch ein lange nachwirkendes Meisterwerk, dem ich gerne 6 statt 5 Sterne geben würde, ein Buch zwar mit Gewaltszenen, aber auch liebevollen und warmherzigen Momenten und hoffnungsvollen Lichtblicken, ein großartiges, jedoch sehr forderndes Leseerlebnis.Beeindruckt hat mich die stilistische Vielfalt, die unterschiedlichen, jeweils zu den Personen passenden 'Stimmen', vom Teenagerjargon -voll stark, mega, was geht?, beschissen- bis hin zu einer rätselhaften Geisterstimme, die dem Leser weitere Erkenntnisse vermittelt.Nicht zuletzt gibt es wunderschöne Bilder und Szenen wie die mit dem Pflaster, die die Seelenzustände der Charaktere widerspiegeln und viel Symbolik, die schwierig zu entschlüsseln ist (Vögel, Bienen,...) und bedeutungsvolle, zitierfähige Sätze:'Ihre Körper waren Fischernetze und ihre Worte waren silberne Fische, die sich wanden, um zu entkommen.' (252) - 'Alles, was ich spüren konnte, waren die Bienen, die in meiner Brust festsaßen und mein Herz wund machten.' (264)'Niemand ist NUR irgendwas.' 371 - 'Davor sollten die Leute sich fürchten: Dummheit. Und Dummheit im Rudel ist die schlimmste von allen.' 373Kurz und gut: für mich ist es ein Highlight, anspruchsvoll zwar, aber eines der besten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.P.S. Noch ein Wort zum Äußeren: ein hochwertig ausgestattetes Buch mit seidenweichem Cover mit Vogel (Maori-Kunst), dazu hochwertiges Papier, Fadenheftung, Lesebändchen, ein Kleinod.