Kein Roman, sondern der (schwierige) Lebensratgeber einer Strauchelnden
Ich habe dieses Buch in der Erwartung gekauft, einen Roman zu lesen. Was ich bekam, war der etwas zweifelhafte Lebensratgeber einer sich selbst als christlich definierenden, privilegierten US-Amerikanerin, die ihre psychische Instabilität hinter Lebensweisheiten versteckt, mit denen sie andere Frauen auf den richtigen Weg führen will - wobei sie mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgeht., dass alle Frauen das selbe Mindset und die selben finanziellen Optionen haben wie sie selbst. Dass sie in einer Seifenblase lebt und echte Luxusprobleme pflegt, ist ihr selbst am wenigsten bewusst.Aber mal zur Geschichte: Glennon ist ein Mädchen/ eine Frau, dass gesellschaftlich dazu gehören will - einst zu der goldenen Clique ihrer Schule, später zu allem, was die "Normalität" in ihren Kreisen so ausmacht - ein gut verdienender Mann, drei Kinderchen, sie engagiert sich in einer Art Elternbeirat und der Kirche. Glennon kann gut schreiben und hat viel Zeit. Glennon schreibt ein Buch über sich selbst: wie sie vom Alkohol los kam, wie sie ihre Süchte und Bulimie bewältigte, wie toll die Ehe mit ihrem Mann ist, wie man Liebe wach hält, welche Herausforderungen frau als Mutter und Gattin erlebt.. Es wird ein Bestseller, was durchaus beweist: da draußen gibt es sehr viele Frauen, die sich perfekt in sie hinein versetzen können und vielleicht auch mit einigen Punkten ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter hadern. Ein paar Jahre vergehen. Dann erscheint Glennons nächster Bestseller, Titel: "Ungezähmt". Hier sagt Glennon, dass die Ehe doch nicht so toll war und erzählt, wie sie sich in eine Frau verliebte. Sie positioniert sich als "woke" und schwimmt so perfekt in der aktuell angesagten Strömung mit. Aber nicht nur das. Wieder geht`s darum, wie sie Alkohol und Bulimie Lebewohl sagte und wie sehr sie gesellschaftliche Erwartungen erfüllen wollte. Fazit: jetzt aber hat sie sich gefunden, lebt ihr wahres Leben und alles ist gut. Jede Frau sollte ihr wahres ICH finden und es ausleben. Nun, da bin ich jetzt mal gespannt, was das nächste Buch bringt: wie man eine Trennung bewältigt? Wie man als Eremitin lebt? Wie man sein wahres Selbst in einem Kloster findet? - Ich persönlich rechne mit allem und habe das Gefühl, die Autorin wird ihr Umfeld ein Leben lang durch immer neue Selbstfindungsverrenkungen auf Trab halten. Weil sie eines halt nie verliert: ihre Instabilität.Wie klar herauskommt, fand ich mich in diesem Buch nicht wirklich wieder. Es war nicht alles schlecht; manches regt zum Nachdenken an. Glennon Doyle ist durchaus intelligent und hat oft interessante Zugänge zu Themen, die zum Reflektieren anregen. Aber dann gab es halt auch diese Widersprüche und seltsamen Auswüchse ihrer Persönlichkeit, wo man sich als Leserin fragt, inwiefern Frauen in ihr ein Vorbild sehen. Beispiele:Glennon empfindet Anrufe und SMS als Zumutung, weil jemand in ihren privaten Raum eindringt.Glennon verfällt in Schockstarre, wenn es an der Haustüre klingelt, weil da jemand UNANGEKÜNDIGT etwas von ihr will.Glennon hat laut eigener Aussage keine Freundinnen, obwohl sie ständig von ihren Freundinnen erzählt. "Meine FReundin x", "Meine Freundin y" usw.Glennon ist SO introvertiert, diskutiert aber aus eigener Motivation mit diversen Leuten öffentlich, unterhält einen Saal voller Menschen, sitzt in TALK Shows usw. . Ich kenne einige Introvertierte. Sie meiden Konfrontation mit anderen Menschen. Meiner Meinung nach kokettiert die Autorin mit dem Begriff, um sich interessant zu machen.Glennon muss zum ersten Mal selbstständig einen Flug buchen (mit über 40!) und schlussfolgert "Ich kann schwierige Dinge tun".(Zugegeben, es ging in diesem Kapitel auch um die Umstände, wegen derer sie ihre Reise antreten musste - dennoch hatte es die Aussage in sich!)Glennon verlässt ihren Mann für eine Frau und ist dann bissig zur späteren neuen Frau ihres Mannes - und will sie bei einem harmlosen Charity Lauf nicht gewinnen lassen. (Sehr reif!)Glennon wohnt (noch) in Florida, dem US-Bundesstaat, in dem so viele ältere Leute leben, und sagt einer Frau, wie toll es ist: Botox und Fitness-Studio ist nicht nötig, weil man unter den Alten immer jung aussieht. Wer Glennon mal googelt (es gibt viele Fotos), soll sich selbst vom Wahrheitsgehalt dieser selbstbewussten Aussage überzeugen..Grundsätzlich wirkt sehr vieles in diesem Buch (und an der Autorin) absolut inszeniert und wie Selbstbeweihräucherung vom Feinsten. Es geht überwiegend darum, wie toll die Autorin alle Lebenskrisen und - herausforderungen (z.B. die Buchung eines Flugs) meistert, wie sie sich angeblich von gesellschaftlichen Zwängen losgesagt und wie sehr sie sich selbst gefunden hat. Ich persönlich habe mich in diesem Buch nicht wiedergefunden und kann mich weder mit Glennons Problemen identifizieren noch mit der bigotten US-Frömmelei, die immer wieder zum Vorschein kommt, irgendwas anfangen. Vermutlich war/ bin ich nicht die richtige Zielgruppe.Wen das Buch (die Autorin) dennoch auch nach dem Zuklappen des Buches beschäftigt, dem sei eine Internet-Recherche empfohlen. Ein interessanter Zeitungsartikel mit einem Foto, dass diese gesamte Rezi illustrieren könnte, findet sich in "Architectural Digest": Glennon, die nach eigener Aussage ihre Bulimie besiegt hat, steht in einem weißen Kleid in schätzungsweise Größe 32 in ihrer perfekten Küche vor einem Esstisch mit verschiedensten Speisen und beißt herzhaft in ein fettes Stück Pizza. Urteil: perfekt inszeniert.