Mein Lese-Eindruck:
Josephine Teys Kriminalromane haben inzwischen Kultstatus. Mit Der falsche Erbe legt der Kampa-Verlag den Roman Der Erbe von Latchetts aus dem Jahre 1949 erneut vor, wobei die Übersetzung behutsam überarbeitet wurde.
Der Roman stellt das gängige Krimi-Muster auf den Kopf. Es fehlen die üblichen Ermittlerfiguren wie Polizisten oder Detektive. Stattdessen wird die Geschichte des jungen Hochstaplers Brat erzählt, der in auffallender Weise dem verschwundenen Erben eines großen Gutshofes ähnelt und der sich daher in Kumpanei mit einer verkrachten, aber kundigen Existenz dazu entschließt, sich als zurückgekehrter Erbe auszugeben. Die Ähnlichkeit macht ihn glaubwürdig, allerdings hegt der Zweitgeborene Zweifel an der Echtheit des neuen Bruders, und dafür hat er seine ganz eigenen Gründe.
Brat bzw. Patrick liebt das englische Landleben und gewinnt mit seiner Bescheidenheit und Freundlichkeit die Herzen seiner Familie und schließlich auch die der Leser. Brat wird jedoch von seinem Gewissen geplagt, und so entscheidet er sich, die Vorgänge um das Verschwinden des echten Patrick aufzuklären. Damit steht der Leser vor zwei spannenden Fragen: Gelingt ihm die Aufklärung über das mysteriöse Verschwinden des echten Patrick? Und wenn ja, welche Konsequenzen hat das für ihn und seinen Betrug?
Josephine Tey versammelt wieder einen Reigen liebenswerter und origineller Figuren in ihrem Roman, denen sie mit Humor und auch Ironie Leben verleiht. Da ist z. B. der Pfarrer, den weder antike Ruchlosigkeit noch moderne Gottlosigkeit erschüttern können und der in seiner Sonntagspredigt den Dorfbewohnern ihre Wochenration an Übersinnlichem zuteilt. Oder der Brauch der Familie, seit Napoleons Tagen immer dieselben Zimmer im selben Gasthaus zu beziehen; ein kleiner Seitenhieb auf das englische Traditionsbewusstsein. Josephine Teys Ironie zielt gelegentlich aber auch gegen ihre eigenen schottischen Landsleute.
Sie zeichnet hier ein sehr positives Bild des englischen Landlebens: die Familie ist zwar wohlhabend, aber sparsam, und jedes Familienmitglied trägt durch seine Arbeit auf dem Gestüt zum Auskommen bei. Und: es ist für die Familie selbstverständlich, alte oder kranke ehemalige Mitglieder des Hauspersonals ausreichend zu alimentieren.
Fazit: Ein gekonnt konstruierter Roman mit liebenswerten Figuren, fließend ruhig erzählt, spannend! Ein Lesevergnügen!