Auch im 2.Band die Technologiekritik, hier aber mit starken Frauenfiguren und einer religiösen Sekte -klug, spannend & erschreckend bekannt.
Der zweite Band von Atwoods Trilogie ist ein ebenso visionärer wie tiefgründiger Roman wie der erste, diesmal quasi nur mehr aus weiblicher Perspektive. Mit scharfem Blick auf gesellschaftliche, technologische und ökologische Entwicklungen entwirft Atwood eine düstere Zukunft, in der moralische Integrität fragwürdig erscheint und gleichzeitig zur Überlebensfrage wird. Im Mittelpunkt stehen zwei außergewöhnliche Frauenfiguren, deren Lebenswege auf verschiedene Weise von patriarchaler und politischer Gewalt geprägt sind. Ihre Stärke liegt nicht in etwas Heroischem, sondern in ihrer Widerstandskraft, in ihrer Nachdenklichkeit und der Fähigkeit, Freundschaft als ethisches Fundament zu bewahren. Die weibliche Perspektive, aber auch die Erfindung einer religiösen Umweltsekte, die Vielen eine nicht mehr existente Heimat bietet, sind dabei eine raffinierte Art die Grauzonen von Moral und der eigenen Wertehaltung auszuloten und Dinge wie Solidarität und Gemeinschaftszwang, Macht und Unfreiheit, die Rolle der Frau im Vergleich zur Behandlung der Natur, Alter/Tod oder Menschoptimierung usw. gegenüberzustellen und Gefahren wie die Schwachstellen aufzuzeigen, Differenziertheit statt lediglich einer schwarzgemalten Schreckensvision. Atwood verwebt dabei nicht wenige Themen wie Überwachung, Konzernherrschaft, Umweltzerstörung und biotechnologische Grenzüberschreitungen zu einer, auch aktuell, erschreckend vorstellbaren Realität, in die fundamentalen Rechte des Menschen, aber vor allem auch aller Mitgeschöpfe, auf dem Spiel stehen. Dabei stellt sie die Frage, wie äußere Umstände unsere Moral formen - und ob Hoffnung trotz allem möglich bleibt.Besonders eindrucksvoll fand ich hier auch Atwoods Art der Auseinandersetzung mit dem Glauben: In der Sekte der "Gottesgärtner" verbindet sich spirituelle Ökologie mit subversiver Gesellschaftskritik - eine schöne Idee, den Garten Gottes zu pflegen, sich im Gegensatz zu den Techgiganten auf Gottes Lehre rückzubesinnen - aber mehr als ein Ideal?Fazit: Diese literarische Dystopie ist kein düsteres Endzeitgemälde, sondern eine scharfzüngige Reflexion über unsere Gegenwart - klug, stellenweise poetisch und dringlich, unverändert aktuell und in den wichtigsten Punkten bedenklich realitätsnah. Atwoods Stimme war immer schon eine der notwendigen in einer Zeit, die nach ethischer Orientierung verlangt. Ich lese die Autorin nun seit den Achtzigern und sie hat für mich nichts an der früheren Faszination eingebüßt. Ihre Frauenfiguren sind immer besonders, aber hier mochte ich auch einige der Männerfiguren richtig gerne, und auch, wie sich der Blick auf die Gesamtgeschichte durch die kleinen Bezugnahmen auf den ersten Band und den Mann, den der Leser schon aus Bd.1 kennt, ändert. Jetzt bin ich sehr gespannt auf den dritten Band.