Eine transsibirische Fahrt ins Ungewisse und die Geschichte einer außergewöhnlichen Anziehung - zupackend und zart erzählt Maylis de Kerangal von zwei Menschen, die nicht wissen, wohin; von der Weite der russischen Landschaft und einem Fluchtplan, der so undurchführbar wie verführerisch scheint.
Aljoscha ist Zwangsrekrut. Zusammen mit zahlreichen anderen russischen jungen Männern befindet er sich in der transsibirischen Eisenbahn. Was ihn von den anderen unterscheidet: Seit er den Zug bestiegen hat, ist er entschlossen zu desertieren. Jede Haltestelle birgt die Versuchung der Flucht, doch wird er es allein nicht schaffen. Während er mitternachts auf den schmalen Gängen eine Zigarette raucht, trifft er auf Hélène, eine Französin, die älter ist als er. Sie sprechen keine gemeinsame Sprache, und doch scheint es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden zu geben. Als Hélène ihn mit in ihren Wagen der ersten Klasse nimmt, wird sie unausgesprochen zu seiner Komplizin. Doch wie soll sie, die selber auf der Flucht ist, dem Jungen helfen?
Besprechung vom 10.10.2024
Liebe im Land der Menschenverachtung
Vor zwölf Jahren schrieb die französische Autorin Maylis de Kerangal ihre Erzählung "Weiter nach Osten" über eine Reise durch Russland. Jetzt erscheint sie, punktgenau für die aktuelle Situation, als deutsche Übersetzung.
Maylis de Kerangal ist seit mehr als zwanzig Jahren eine feste Größe im französischen Literaturbetrieb. Aktuell steht sie in Frankreich mit ihrem neuen Roman "Jour de ressac" (Tag der Brandung) auf der Auswahlliste für den Prix Goncourt - und auf den Bestsellerlisten. In Deutschland sind jedoch noch gar nicht alle Bücher dieser bemerkenswert stilsicheren Autorin übersetzt. Den größten Erfolg hierzulande hatten "Die Brücke von Coca" (2012) und "Die Lebenden reparieren" (2016). Nun kommt ein schmaler Band mit dem Titel "Weiter nach Osten" heraus, der in Frankreich bereits 2012 als "Tangente vers l'est" erschien und aus dem Hörspiel "Lignes de fuite" (Fluchtlinien) hervorging, das die Autorin 2010 geschrieben hatte. "Prendre la tangente" heißt übrigens "fliehen, sich aus dem Staub machen", sodass "Flucht nach Osten" ein besserer deutscher Titel wäre.
2010 war das Jahr der französisch-russischen Freundschaft, und es brachte Maylis de Kerangal eine Einladung nach Russland ein inklusive einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Dass dieser vom deutschen Verlag als "Roman" apostrophierte Text, der eher eine Novelle ist, gerade jetzt publiziert wird, verwundert angesichts der kriegerischen Zeitläufte, vielleicht ist aber auch gerade das der Grund für die Veröffentlichung dieser Geschichte, die eine ganz und gar "unerhörte Begebenheit" beschreibt: die zufällige Begegnung zwischen Aljoscha, einem jungen russischen Soldaten, der desertieren will, und Hélène, einer reichen Französin von Mitte dreißig, die ihren russischen Geliebten verlässt und ebenfalls flieht. Ort des ungewöhnlichen Zusammentreffens ist die Transsibirische Eisenbahn; er fährt in der dritten, sie in der ersten Klasse. Nichts verbindet diese beiden so unterschiedlichen Menschen im Leben, und doch bindet sie das Geschehen auf der Fahrt unauflöslich aneinander.
Die Sprache, in der das geschildert wird, ist von großer Präzision, von atemraubendem Tempo. Man spürt den Einfluss der gesprochenen Sprache des Hörspiels. Hier muss man die Leistung der etatmäßigen Kerangal-Übersetzerin Andrea Spingler hervorheben, der es gelungen ist, diesen Rhythmus, dieses Accelerando kongenial ins Deutsche zu übertragen; das Tempo scheint dem des Zuges zu gleichen. Die Sprachebenen reichen von lyrisch-poetischen Beschreibungen bis zu Argot-Ausfällen. So ist gleich zu Beginn für den abgezehrten und kahl geschorenen Aljoscha Russland "sein Scheißland". Ohne Unterstützung und ohne finanzielle Mittel zur Bestechung hat er keine Chance, sich der verhassten Zwangsrekrutierung zu entziehen, und findet sich eingepfercht wie Vieh mit mehr als hundert weiteren Zwangsrekrutierten auf dem Weg nach Sibirien, in "das riesige Verlies des Zarenreiches, bevor es zum Land des Gulags wird. Ein Sperrgebiet, eine stumme, gesichtslose Zone. Ein schwarzes Loch."
Bei einem Halt ist Hélène zugestiegen, und Aljoscha stellt sich neben sie ans Zugfenster. Rauchend und sich mit "rudimentären Pantomimen" verständigend, fahren sie durch die russische Nacht. Er folgt ihr ins Abteil, wo sie ihn auf der zweiten Liege schlafen lässt, seinen Schlaf bewacht und ihn schließlich versteckt, als zwei Zugbegleiterinnen zur Kontrolle vorbeikommen. Danach bewacht er wiederum ihren Schlaf. Bis zur Endstation Wladiwostok am Pazifik, Europas letztem Außenposten, sind es noch drei Tage und drei Nächte, er aber müsste schon in Irkutsk aussteigen. Höhepunkt der Fahrt ist die Route am Baikalsee entlang, diesem "blauen Auge der Erde", das abwechselnd Binnenmeer und "umgekehrter Himmel" ist.
Aljoschas Fluchtversuche scheitern, ihm droht Entdeckung, als der Zug durchsucht wird. Die darauf folgenden Szenen zwischen Hélène und Aljoscha sind von großer Intensität und Poesie: rituelle Waschung in der Zugtoilette, Taufe und Erweckung zu einem neuen Leben über alle Grenzen hinweg. Der mythische Zug, der so viele Zeitzonen durchquert und in seiner Fortbewegung durch den Raum die Zeit aufgelöst hatte, hat auch in ihnen eine "unbekannte schwebende Zeit" freigesetzt. Sie "mischen ihre Sprachen wie die Schamanen", und als eine Zugbegleiterin sie zum Abschied fotografiert, haben sie die gleichen Gesichter.
Die Bilder dieses schmalen Buchs sind von ungeheurer Wucht, sie hallen lange nach - wie bei einem großen Film. Der Kontrast zwischen den Weiten der Landschaft und dem zellenartigen huis clos des überfüllten Zuginneren bewirkt Spannung und Konzentration zugleich. Lange Kamerafahrten entlang der vorbeiziehenden Landschaften wechseln mit Zooms auf die Protagonisten
Diese außergewöhnliche Geschichte ist aufwühlend, als menschliche Begegnung in einer feindlichen Umgebung, als Reise durch eine Landschaft, die so bedrohlich wie faszinierend ist, und als Nachricht aus dem Innern eines menschenverachtenden Systems. Und über allem liegt ein Hauch "Krieg und Frieden". BARBARA VON MACHUI
Maylis de Kerangal: "Weiter nach Osten". Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 99 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.