Die wahre letzte Grenze
To boldly go.
Ein Infinitiv, wenn auch auf adverbiale Weise pathetisch angehaucht, ist eigentlich nichts Besonderes und doch steckt in diesen drei kleinen Worten, die Mitte der 1960er-Jahre im Vorspann einer amerikanischen SF-Fernsehserie gesprochen wurden, eine der Kernaussagen Star Treks: Auf gehts, und zwar kühn und mutig. Captain Kirk und seine Kollegen weiten in bestem Pioniergeist Grenzen aus, sie vergrößern Erfahrungshorizonte und Wissensstandards schlicht dadurch, dass sie vorwärts blicken. Boldly.
Was sollen sie auch sonst machen? Star Trek musste unterhalten und sein Publikum mit spannenden Geschichten vor das heimische Pantoffelkino fesseln. Es war ein trivialer Stoff, zumindest in den Augen des ausstrahlenden Networks NBC, Raumschiffgeschichten für die Massen. Die 1960er und Folgejahrzehnte waren nicht die Zeit für gebrochene Antihelden; wer sich als Protagonist im seriellen narrativen Fernsehen behaupten wollte, musste ein Macher sein, ein von Grund auf optimistischer Aktiver. Einer wie Kirk.
Oder?
Wir kennen den Typ. Energiegeladene Alleskönner, die selbst in der ausweglosesten Lage noch einen Trumpf aus dem Ärmel schütteln, weil sie nie aufgeben und selbst dann noch Augen und Verstand nach Lösungen offen halten, wenn Otto Normalbürger längst apathisch wimmernd in der Ecke liegt und auf das scheinbar so sichere Ende wartet. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine MacGyver-Folge, die dieses Prinzip mehr als deutlich machte: Der von Richard Dean Anderson verkörperte Held will in ihr heimlich ins Haus seiner Gegner der Woche eindringen, dieses ist aber von innen mit unzähligen Kameras gespickt, die seine Anwesenheit alsbald registrieren und dem Feind verraten würden. Eine ausweglose Situation? Mitnichten, denn mit sehr unkonventionellen Methoden sorgt Mac dafür, dass die Übeltäter seine Anwesenheit gar nicht erst mitbekommen. Zufällig ist er bei seinem Einbruch nämlich in der
Küche gelandet und schafft es binnen Minuten, aus einem altertümlichen Elektromixer, einem metallenen Nudelsieb und ein paar anderen Haushaltsgeräten einen optisch rudimentär an ein Radioteleskop im Winzformat erinnernden Störsender zu bauen, dank dem im gesamten Gebäude prompt die Überwachungskameras ausfallen. Ab da kann er sich frei bewegen und die überraschten Bösewichte überrumpeln, natürlich boldly. Jean Pütz wäre stolz auf ihn.
Ein Sieb als Störsender Klar kann man das albern finden, kindisch und unrealistisch. Ist es auch, aber darum geht es jetzt gar nicht. MacGyver genau wie das ähnlich gestrickte A-Team und all die anderen Trivialhelden aus Film und Fernsehen, für die er hier exemplarisch steht vertritt eine Grundeinstellung, die so falsch nicht ist und zum narrativen Standard nahezu jedes Geschichtenerzählers gehört: Helden sind diejenigen, die dem Schicksal ein Schnippchen schlagen. Leute, denen mit der Zeit alles gelingt, auch und gerade wenn die Umstände gegen sie sprechen. Weil sie nie aufgeben und an sich glauben. Sie sind Menschen, die Wagnisse eingehen, mit dem Teufel ein Tänzchen wagen und binnen der meist fünfundvierzig Minuten, die es braucht, um eine Fernsehfolge zu erzählen, durch das Glück des Tüchtigen belohnt werden. Alles wird gut gebt MacGyver, dem Mann mit dem nie versagenden Verstand und dem Wunder-Taschenmesser, nur eine Salatschüssel, zwei Rollen Draht und etwas Kaffeepulver. Passt schon. Hätte man in den 1960ern bei NBC angerufen und gefragt, ob auch James T. Kirk in die derart beschriebene Personengruppe fiele, wäre die Antwort zweifellos ein vorbehaltloses Ja gewesen.
Doch NBC hätte Unrecht gehabt. Denn wenn diese Definition zutrifft, gibt es in Star Trek keine Helden.
Keine Ahnung, wie es Ihnen geht, aber mein Alltag hat mit dem von Angus MacGyver sehr wenig gemeinsam. Und ich glaube, damit stehe ich nicht allein da. Ich kenne sehr wohl Situationen, die ausweglos sind, und Dinge, die ich nicht ändern kann. Eg
al, wie sehr ich mich auch anstrenge und wie vielen Sternschnuppen ich Wünsche hinterher schicke. Ich bin kein Held wie er, habe nie gegen nadelbestreifte Gangsterbosse oder schnurrbärtige Diktatoren lautmalerisch betitelter Bananenrepubliken gekämpft, aber manchmal denke ich, dass ich ihn in Punkto Lebenserfahrung locker in die Tasche stecken könnte. Denn im Gegensatz zu Angus weiß ich, was Nichts geht mehr bedeutet. Und Kirk weiß es auch.
Man kann Star Trek viel zu Gute halten: die philosophische Grundeinstellung des friedlichen Miteinanders, die lebendigen und faszinierenden Charaktere oder den sense of wonder, der zur guten Phantastik schon nahezu obligatorisch dazugehört. Aber zu seinen größten Pluspunkten zählt für mich die Tatsache, dass es von Anfang an das Scheitern als Normalität akzeptiert.
Und diese Akzeptanz hat in Gene Roddenberrys Universum einen Namen: Kobayashi Maru. Er bezeichnet einen ganz besonderen Bestandteil der Ausbildung, welche die Kadetten an der Sternenflottenakademie absolvieren: einen Simulatortest, den sie komme, was immer da wolle einfach nicht gewinnen können. Das Grundmuster des Kobayashi Maru, wie es erstmals in den Anfangsszenen des Kinofilms Star Trek II Der Zorn des Khan (1982) festgelegt wurde, ist recht einfach. Die Kadetten spielen die Brückencrew eines Raumschiffes und werden in eine politisch äußerst brisante Rettungsmission verwickelt, denn das Föderationsschiff Kobayashi Maru ist jenseits der Grenze zum Territorium der kriegerischen Klingonen in Havarie geraten und kann sich aus eigenen Stücken nicht mehr in den sicheren Föderationsraum hinüberretten. Die Testteilnehmer stehen nun unwissentlich vor einer Zwickmühle: Wenn sie sich entscheiden, Held zu spielen und das Schiff zu retten, verletzen sie klingonisches Grenzrecht und bekommen darauf ist der Simulator unausweichlich programmiert die Quittung prompt serviert. Die Klingonen greifen an und zerstören nicht nur die wehrlose Kobayashi Maru, sondern
sie töten auch einen Großteil der Simulatorcrew. Entscheiden sich die Kadetten aber, ganz unheldenhaft auf Nummer Sicher zu gehen und das Grenzrecht zu respektieren, müssten sie fortan mit der Gewissheit leben, den Hilferuf einer Mannschaft aus Gleichgesinnten ignoriert und damit deren sicheren Tod besiegelt zu haben. Wie mans macht, macht mans verkehrt.
Der Zorn des Khan ist nur ein Beispiel von vielen, in denen Star Trek die Brisanz dieser simplen Erkenntnis betont, welche das Franchise doch von zahllosen anderen, deutlich trivialeren Abenteuergeschichten unterscheidet. Schon im nächsten Kinofilm ist es Kirk ausgerechnet der Haudegen James T. Kirk , der den Geist dieses Testes am eigenen Leib erfahren muss, als er sich gezwungen sieht, die wahre Liebe seines Lebens, die U.S.S. Enterprise, zu zerstören, bevor sie den Klingonen in die Hände fällt. Mein Gott, Pille. Was habe ich getan, sagt Kirk, während er fassungslos in den Himmel starrt, wo sein Schiff explodiert und verglüht wie ein herab fallender Stern. Und Pille, der weise und verständnisvolle Schiffsarzt Leonard McCoy, antwortet: Das, was du immer tust. Was du tun musst. Was dir entspricht.
McCoy ist oft der menschliche Geist in den Geschichten und auch dieses Mal hat er Recht. Schon in der alten TV-Serie aus den sechziger Jahren hat Star Trek gezeigt, dass es manchmal nicht geht, das Rad noch einmal umzudrehen. In der Episode Griff in die Geschichte lässt Kirk seine geliebte Edith Keeler sterben, weil ihr Tod, wie er weiß, eine düstere Zukunft verhindert. Kirk leidet unter dieser Gewissheit, aber er versteht und akzeptiert auch, dass er nichts an ihr ändern kann. Kobayashi Maru.
In der nicht minder brillanten Episode Im fahlen Mondlicht aus der Serie Star Trek: Deep Space Nine sieht sich Captain Benjamin Sisko in der Lage, die Vereinigte Föderation der Planeten vor der Vernichtung durch das feindliche Dominion zu retten. Alles, was er dazu tun muss, ist die Romulaner davon zu über
zeugen, auf Seiten der Föderation in den Dominionkrieg einzusteigen und deren Truppen somit beachtlich aufzustocken. Der Haken an der Sache ist aber, dass die Romulaner keinerlei Anlass haben, sich in den Kampf einzumischen. Und Sisko, das große Wohl über das große Übel stellend, lügt sie solange an, bis sie seinem Wunsch entsprechen.
Avery Brooks Darstellung des gequälten Siskos ist in dieser knapp eine Dreiviertelstunde dauernden Serienfolge abermals großartig. Er macht das Dilemma nahezu körperlich spürbar, dem sich seine TV-Figur gegenübersieht. Den Schmerz, den Sisko bei der Erkenntnis empfindet, dass er zur Rettung seines Lebens und dem unzähliger weiterer friedliebender und freier Wesen, Welten und Standards seine Moral, seinen Anstand und seine ethischen Ideale opfern muss. Sisko bringt dieses Opfer, auch wenn Brooks Spiel deutlich macht, dass diese Tat noch sehr lange an dem rechtschaffenen Sternenflottenoffizier nagen wird. Wahrscheinlich sogar bis ans Ende seiner Tage. Ich habe gelogen, diktiert Sisko am Ende der Episode seinem Logbuch. Betrogen. Ich habe Männer bestochen, um die Verbrechen anderer Männer zu vertuschen. Ich habe Beihilfe zum Mord geleistet. Aber das Verdammungswürdigste von all dem ist, dass ich wohl damit leben kann. Und wenn ich es noch einmal machen müsste, würde ich es tun. Worte, denen Siskos Mimik und Gestik Hohn spricht. Nicht von ungefähr löscht er den kompletten Logbucheintrag am Ende. Kobayashi Maru.
Diese No-Win-Szenarien gibt es überall, nicht nur in Star Trek. Wir erleben sie immer wieder. Ereignisse laufen nicht, wie sie sollten. Wünsche werden nicht wahr, Hoffnungen...