Die Spur
Es war einmal ein Mann, der nach anfänglichem Unwohlsein darüber nachdachte, dass vielleicht etwas mit ihm nicht stimmte. Wenn um ihn Stille war, horchte er in sich hinein. Vor allem im Dunklen war er sich selber nah und ging in sich hinein.
Ja, hier drückte etwas, grübelte er, dort fühlte es sich möglicherweise anders an als sonst. Angst überkam ihn, nackte Angst. Es konnte sein, dass er krank war. Fast spürte er die Anwesenheit von etwas Unausweichlichem, aber er konnte es nicht greifen, nicht fassen, was es sein konnte.
Heimlich ging er an dem Tag zum Arzt, als er bemerkte, dass auch seine Hautfarbe blass geworden war. Nun war es nicht länger eine Vermutung. Er war offensichtlich erkrankt. Nur woran? Das konnte er nicht sagen. Wo es ihm weh täte, fragte der Doktor, doch er vermochte nur sein diffuses Unwohlsein und das gelegentliche Zwicken im Bauchraum nennen.
Beim Ultraschall nickte der Arzt und sagte, dass er einen Verdacht habe. Die Blutuntersuchung müsse aber noch abgewartet werden.
Müde ging der Mann nach Hause. Das alles war zu viel für ihn. Vor allem, dass sich der Mediziner so in Schweigen gehüllt hatte, konnte nichts Gutes bedeuten. Wahrscheinlich wollte er ihn einfach noch nicht mit der Wahrheit konfrontieren. Mit der grausigen Wahrheit, dass er nach einer Reihe von entwürdigenden Behandlungsversuchen sterben würde. Fast vierzehn Tage lang gelang es ihm nicht, nach seinen Blutergebnissen zu fragen. Er war wie gelähmt. In dieser Zeit war er noch blasser geworden, Müdigkeit und Unwohlsein hatten zugenommen. Nachts horchte er in sich hinein, hielt Zwiesprache mit seinem Innersten und wusste, dass ihm im Grunde nichts anderes übrig blieb, als endlich die Wahrheit zu wissen.
Da kam ihm der Zufall in Form eines Umschlags zur Hilfe, den er eines Morgens in seinem Briefkasten fand. Er trug ihn n
ach oben, nahm die Brille zur Hand und erschrak. Der Arzt hatte ihm geschrieben.
Weitere drei Stunden brauchte er, bis er sich überwinden konnte, den Brief zu öffnen. Dann las er, dass er schwanger war.
Ungläubig starrte er aufs Papier, las noch „11. Woche“, dann glitt es ihm aus den Händen. Er setzte sich. Dabei blieb sein Blick an seinem Bauch hängen. Jetzt erklärte sich auch, warum er den Gürtel hatte ein Loch weiter schnallen müssen. Er erwartete ein Kind. Mühsam stand er auf und ging zum Spiegel. Dort zog er das Hemd aus der Hose und schob diese etwas weiter nach unten. Tatsächlich war dort schon ein kleiner Bauch zu sehen. Aber wie sollte er das erklären? Er wusste nicht einmal, wie das hatte geschehen können.
Er zog sich wieder an, ging zum Tisch und bückte sich nach dem Brief, von dem er nur die ersten Zeilen gelesen hatte. Nun wollte er auch den Rest wissen, denn das Schlimmste kannte er bereits. Doch es sollte ihn noch härter treffen.
Eine Männerschwangerschaft sei selten und ungewöhnlich, hieß es weiter unten, denn hier entstünde keinesfalls ein Kind. Er stutzte. Kein Kind, was dann?
Man könne den Ausgang der Schwangerschaft nicht eindeutig bestimmen, schrieb der Arzt, aber es gäbe nur zwei Möglichkeiten: Entweder würde er von einem Engel oder einem Teufel entbunden. Niemand könne dies allerdings vorhersagen. Genaues wisse man erst am Tag der Geburt. Abschließend empfahl ihm der Doktor noch, dass eine Hebamme Schwangerschaft und Geburt begleiten solle, die bereits Erfahrung in diesen Dingen habe. Er selbst könne ihm nicht weiterhelfen, sei aber an seine Schweigepflicht gebunden.
Dem Mann wurde heiß und kalt. Was um Himmels willen trug er da in sich? Sollte er es hassen oder lieben? Konnte er es loswerden, ohne dass es geboren wurde? Fragen über Fragen, die er sich ni
cht beantworten konnte, aber wer konnte das überhaupt?
Als er den Brief in den Umschlag zurückstecken wollte, sah er, dass dort noch ein kleiner Zettel mit einer Adresse haftete von einer gewissen Haga Zussa, wohnhaft am Herrnacker. Das kannte er überhaupt nicht. Es war auch keine Telefonnummer dabei. Er hatte keine Ahnung, wie er Frau Zussa erreichen sollte, fühlte aber, dass es wichtig war. Vielleicht war sie die Hebamme, an die er sich wenden sollte, nur wie? Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit haben würde, wenn er abtreiben wollte, falls dies überhaupt möglich war.
Fast eine Woche brauchte er, bis er endlich von einem alten Bauern erfuhr, dass mit Herrnacker das Gelände des alten Friedhofes gemeint war. Dort standen noch einige alte Häuser in direkter Nachbarschaft. Im Dunklen schlich er sich in die Hauseingänge, um nach den Namen zu schauen. Als er schon dachte, auf einer falschen Spur zu sein, öffnete sich die Tür des letzten Hauses, noch bevor er das Schild lesen konnte.
Vor ihm stand eine sehr alte Frau, die fortwährend mit dem Kopf wackelte, als ob sie nickte, aber sie sagte nichts, zeigte nur mit ihrer Hand ins Innere des Hauses. Er zögerte kaum merklich, trat dann aber ein und blieb im Flur stehen. Da nahm sie seine Hand und führte ihn den Gang entlang. Nachdem sie zehn Minuten immer geradeaus gegangen waren, hatte er das Gefühl, dass sie gewachsen war, aber sie hatte sich auch verjüngt. Als sie den Raum endlich erreichten, der am Ende des Flures lag, schätzte er sie auf Mitte dreißig. Ihr Kopf hatte aufgehört zu wackeln. Sie war auf eine zeitlose Art und Weise schön und dabei gleichzeitig anziehend und unnahbar. Leise legte sie den Finger auf die Lippen und trat hinter ihn. Dabei legte sie die Hände auf seinen Bauch und summte. Das Etwas in ihm bewegte sich, und es war das erste Mal, dass er es fühlte.
„
;Ich sehe, du trägst schwer an deiner Nachkommenschaft?“, fragte sie.
„Ja, gibt es eine Möglichkeit, die Sache zu beenden?“
„Viele, aber keine, die du überleben würdest.“
Er zuckte zusammen. „Denkst du, dass es einfach ist, den Teufel im Leib zu haben?“, fragte er.
„Woher weißt du, dass es der Teufel ist? Bist du nie auf die Idee gekommen, es könnte auch ein Engel sein?“, gab sie zu bedenken.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Es wechselt“, sagte sie.
„Ein Wechselbalg?“
„In gewisser Weise“, antwortete sie. „Es ist mal das eine und mal das andere, aber man weiß nie genau, wann es was ist.“
„Das ist ja schrecklich“, stöhnte der Mann und wollte es gerne loswerden.
„Daran solltest du nicht mal denken!“, sagte sie, die seine Gedanken gelesen hatte. „Es auszutragen ist das kleinere Übel, glaub mir, denn was du tötest, bringt dich um.“
Der Mann ließ seinen Kopf resigniert hängen und sagte: „Ich hatte Hilfe von dir erwartet …“
„Nein, du wolltest, dass ich es ungeschehen mache, das ist ein Unterschied. Das kann ich nicht, aber ich kann dir helfen, es zu erwarten.“
Der Mann zitterte und dachte an die Metamorphose, die sich dauernd in ihm vollziehen würde, ohne dass er wusste, woran er war, oder mit wem er es gerade zu tun hatte.
„Ich verspreche dir, dass du überleben wirst!“, sagte sie und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ich verspreche es dir, wenn du es schaffst, die Schwangerschaft als etwas für dich Lebenswichtiges zu begreifen.“
„Wie soll ich das schaffen?“, fragte er und fühlte Angst.
„Du hast genug Zeit! Am Tag der Geburt werde ich bei dir sein.“
Er nickte und folgte ihr durch den ellenlangen Gang zurück zur Haustür. Dort sagte sie kein weiteres Wort, nickte nur unablässig mit dem Kopf und sah ihm nur aus ihren greisen Augen nach, die kein Alter zu haben schienen.
Der Mann war ratlos. Er haderte mit seinem Schicksal. Warum nur hatte ihn diese Schwangerschaft getroffen? Er wusste nicht einmal, wie er dazu gekommen war. In den Nächten sprach er mit sich selbst und dem Etwas, das in ihm wuchs.
„Im Grunde weiß ich selbst nicht, mit wem ich es in mir zu tun habe. Nach wie vor habe ich den drängenden Wunsch, diesen Teil von mir loszuwerden.“
So verging die Zeit. Der Mann zog sich immer mehr in sich zurück und empfand auf einmal eine Ruhe, die er schon lange nicht mehr gekannt hatte. Sicher, die Angst war noch da, aber er hatte sich angewöhnt, mit dem Wechselbalg zu sprechen.
„Entwickle dich zum Guten!“, sprach er, oder er sagte zu sich, dass das Böse keinen Raum in ihm habe.
Während sein Bauch ins Unermessliche wuchs, gewöhnte er sich nach und nach an das Ungewisse.
Als die Wehen einsetzten dachte er, Frau Zussa habe gelogen. Wie sollte er den Tag mit diesen Schmerzen überleben? War es ein Anzeichen dafür, dass er den Teufel gebären würde, wenn es so wehtat? Nein, beruhigte er sich und presste. Wie die Frauen das nur aushielten?
Es war nach Mitternacht, als mit der letzten Presswehe eine durchscheinende Gestalt seinem Bauchnabel entstieg und mit ihrem Schwanz hängenblieb. Er starrte den Engel an und sah entsetzt, dass der dunkleSchwanz wohl ein Überbleibsel der Verwandlung gewesen sein musste. Doch der Engel lachte vergnügt, warf den Schwanz wie eine Eidechse ab und entschwebte. Da lag der Mann, völlig erschöpft und leer – nur mit dem Rest des Bösen auf sich, das zischend verglühte. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, da
ss die alte Frau Zussa das Zimmer betreten hatte und ganz vorsichtig seine Brandwunde kühlte. Erst als sie sprach, kehrte er in die Wirklichkeit zurück.
„Siehst du, es ist, wie ich gesagt habe!“ Ihr Kopf wackelte zustimmend.
„Ja, aber der Schwanz?“, fragte er.
„Das war der Rest deiner Angst, aber du hast sie ganz gut in den Griff bekommen, sonst hätte das Gute vielleicht auch noch einen Huf gehabt. Glückwunsch!“
Er starrte sie ungläubig an.
„Ja, du hast richtig gehört“, sagte sie, „die Verwandlung wurde nur durch...