Wann, wie und warum kam die Bioethik nach Deutschland? Wie konnte sie sich in der Turbulenzzone zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit so erfolgreich etablieren? In Biegsame Expertise schreibt Petra Gehring die spannende Geschichte einer Diskursformation, die binnen weniger Jahrzehnte in einer hochpolitischen Arena entstand. Denn Parlamente, Massenmedien und Protestbewegungen spielten hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie Medizin und Recht, Theologie und Philosophie sowie das Zauberwort »interdisziplinär«.
Auf Basis zahlreicher Zeitzeugengespräche und umfangreicher Hintergrundrecherchen schildert Gehring die Debatten etwa um Organtransplantation und Hirntoddefinition, um »Retortenbabys« und Präimplantationsdiagnostik, aber auch die Kämpfe darum, was überhaupt als ethische Expertise gelten soll. Sie zeichnet nach, wie sich die Vorstellung einer instrumentell »anzuwendenden« Ethik zu einem wirkmächtigen Leitbild verfestigt hat. Und sie reflektiert kritisch die Rolle einer Ethik, die zugleich Wissenschaft, Auftrittsformat und mächtige Einflussgröße ist. Biegsame Expertise bietet somit auch eine Theorie der Macht der angewandten Ethik, ist aber vor allem ein fesselndes Stück Zeitgeschichte öffentlicher Moralität.
Besprechung vom 05.02.2025
Expertisen aller Art
Das Entstehen einer Diskursmacht: Petra Gehring legt eine großartige Zusammenschau der Geschichte der Bioethik in Deutschland vor.
Man möchte meinen, dass sich so etwas ausschließt: fulminant und langatmig zugleich zu sein. Doch diese von der Darmstädter Philosophin Petra Gehring verfasste Geschichte der Bioethik in Deutschland hat es in sich. Man hat da immerhin 1200 Seiten zu bewältigen und ist einem ständigen Wechselbad ausgesetzt: auf der einen Seite historische Einordnung und philosophische Reflexion, auf der anderen Zeitzeugenerinnerungen der Protagonisten aus Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaften, Medizin, Medizingeschichte, Biowissenschaften, Soziologie, Politik und Politikwissenschaften sowie dem Journalismus. Diese Gespräche und Interviews, über Jahre zusammen mit zwei Kollegen von Petra Gehring gesammelt, geben dem Buch sein authentisches Gepräge. Sie heben es in ihrer Alltagssprachlichkeit auch wohltuend ab von den üblichen im Fachjargon gehaltenen Traktaten, zumal auch Gehrings Sprachduktus sich von ihm absetzt.
Es ist vielleicht nicht ganz unangebracht, dass dieses Buch von einem Zeitzeugen rezensiert wird, der die ganze Debatte - allerdings vorwiegend aus dem Blickwinkel der zentral beteiligten molekularen Biowissenschaften und deren technologischer Kontexte - über ein halbes Jahrhundert hinweg mitverfolgt hat, aber nicht als Akteur in sie involviert war. Das mag mit dem Anliegen des Buches übereinstimmen, welches mit dem Hinweis beginnt, dass es sich hier "um ein Stück Bioethik-Forschung, also nicht bioethische Forschung, sondern eine Forschung über Bioethik" handelt.
Dabei begleitet das ganze Buch die immer wieder gestellte Frage, was das denn eigentlich sei, die Bioethik. Sie scheint sich eindeutigen Definitionen hartnäckig zu entziehen. Das ist allerdings ein Phänomen, das virulente, orientierungs- und damit geschichtsmächtige Begriffe nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch in den Wissenschaften überhaupt auszeichnet. Hat man es hier mit einer Ausdifferenzierung der klassischen Ethik philosophischer und theologischer Prägung zu tun? Mit einer neuen akademischen Disziplin im Kanon der Geisteswissenschaften? Mit einem vom Ansatz her interdisziplinär ausgelegten Feld der Aushandlung von Ermöglichungen und Beschränkungen, die ihre Dringlichkeit aus der stürmischen Entwicklung der Biotechnologien in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und der immer offensichtlicher werdenden planetarischen ökologischen Krise bezieht? Mit einer pragmatischen Entscheidungshilfe für medizinisch-biologische Grenzfragen? Mit einem Versuch, Technikskepsis in diskursive Bahnen zu lenken?
Als Fazit der Lektüre wird man wohl sagen können: Die Frage lässt sich nicht endgültig entscheiden. Die neue, nicht zuletzt auch früh schon politisch gewollte Diskursmacht Bioethik, eine historisch emergente Erscheinung des letzten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts, lebt aus allen diesen Quellen, und sie ist nicht zu entkoppeln vom omnipräsenten historischen Hintergrundschatten der Verbrechen und mörderischen Perversionen der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik.
Wenn man also auf den Spuren der Suche nach Kriterien für eine klare Disziplingenese und ebenso klare Disziplingrenzen im traditionellen Sinn des akademischen Fächerkanons wandelt, kann man nur enttäuscht werden. Manchmal scheint ein leises Bedauern darüber durch die Zeilen dieses Buches hindurch. Das mag damit zusammenhängen, dass die akademisch betriebenen Wissenschaften - und die vielfältigen Reflexionen auf sie - immer noch nicht entschieden genug zur Kenntnis genommen haben, dass die rasante Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung im vorigen Jahrhundert so etwas wie eine Entdisziplinierung überhaupt, und zwar sowohl in den Natur- als auch in den Geistes- und den Kulturwissenschaften, eingeleitet hat, die heute, so hat es den Anschein, unumkehrbar geworden ist und in ihren vielfältigen und verzweigten Bewegungs- und Erscheinungsformen, wenn überhaupt, dann erst ansatzweise in den Blick genommen wird.
"Molekularbiologie ist das, was diejenigen tun, die sich als Molekularbiologen bezeichnen", lautete bereits die Auskunft eines ihrer Avantgardisten der ersten Stunde vor mehr als einem halben Jahrhundert. So ähnlich liest sich dann auch das Fazit aus Gehrings Durchmarsch durch die Geschichte der Bioethik in Deutschland: "Stattdessen scheint es eher so zu sein, dass Bioethiker ist, wer Bioethiker sein will."
Das ist natürlich überzeichnet und unterkühlt zugleich. Denn das multi- und transdisziplinäre Ringen um eine angewandte Ethik, die den Herausforderungen gerecht wird, die nicht nur mit den Handlungsangeboten der Gen- und Biotechnologien, der Reproduktionsmedizin und den technischen Grenzverschiebungen der Biomedizin insgesamt rund um den Beginn und das Ende des Lebens, sondern auch mit der anthropozänen Bedrohung aller Lebensformen auf dem Planeten einhergehen - dieses Ringen zeigt und zeugt davon, dass es hier um Existenzielles geht.
Bei der Organisation der Materialfülle des Bandes stand Gehring vor der schwierigen Entscheidung, entweder der Komplexität der Entwicklung des bioethischen Feldes in ihren Facetten und Verästelungen, Anastomosen und Verzweigungen chronologisch zu folgen und damit die Überschneidungen, Kontingenzen und Konjunkturen des historischen Prozesses nachzuzeichnen, oder dem Ordnungsmuster der disziplinären Communitys zu folgen, die sich mehr oder weniger stark in das neu entstehende Feld eingebracht haben. Sie hat sich für die zweite Variante entschieden - Recht, Theologie, Medizin, Gentechnologie, Philosophie, Sozialwissenschaften, Wissenschafts- und Technikpolitik, Medien - und damit riskiert, immer wieder einmal vorgreifen und zurückblenden zu müssen, was naturgemäß bedeutet, gewisse Redundanzen in Kauf zu nehmen. Das umfangreiche Konvolut hat dadurch aber sicher an Übersichtlichkeit gewonnen, und der letzte Teil des Buches ist konsequenterweise dann auch dem Versuch gewidmet, die ausgesponnenen Fäden zusammenzuziehen - nicht ohne jeden Syntheseversuch auch sogleich wieder zu dekonstruieren.
Alles in allem hat man es mit einer großartigen Zusammenschau zu tun, die nur jemand zu leisten vermochte, der die "Verfertigung" der Bioethik über lange Zeit und aus der Nähe mitverfolgt und sich zu ihr nicht selten auch zu Wort gemeldet hat. Sie überzeugt durch ihren nüchternen und skeptischen Unterton, der zugleich getragen ist von Respekt für die Protagonisten ebenso wie für die engagierten Gruppen und auch Protestbewegungen: "Für die Zwecke dieses Buches habe ich diese Skepsis in einen Abstand zu übersetzen versucht, der die Freiheit bietet, kritisch zu sein, zugleich aber dem Gegenstand gegenüber fair bleiben will." Dieses Versprechen hat Petra Gehring überzeugend eingelöst. HANS-JÖRG RHEINBERGER
Petra Gehring: "Biegsame Expertise". Geschichte der Bioethik in Deutschland.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025.
1343 S., Abb., geb.
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