Nach dem Erfolg vonDie Schlange von Essexlegt Sarah Perry mit Melmoth einen weiteren Roman vor, der sich deutlich dunkleren Themen zuwendet. Inspiriert vom klassischen Gothic-Roman Melmoth the Wanderervon Charles Maturin, versucht Perry, alte Schauerliteratur mit modernen Fragen nach Schuld, Verantwortung und Verdrängung zu verbinden. Das gelingt ihr streckenweise beeindruckend - aber nicht durchgängig.Im Zentrum steht Helen Franklin, eine zurückgezogen lebende Übersetzerin in Prag, deren nüchternes Dasein durch die Entdeckung eines mysteriösen Manuskripts aus dem Gleichgewicht gerät. Dieses erzählt von Melmoth, einer einsamen, geisterhaften Gestalt, die seit Jahrhunderten durch die Welt wandert und Menschen heimsucht, die Schuld auf sich geladen haben. Die Idee ist faszinierend - Melmoth als personifizierte Erinnerung, als Mahnung, die niemandem erlaubt zu vergessen oder sich reinzuwaschen.Perry verwebt mehrere historische und persönliche Erzählungen miteinander, die Einblicke in Grausamkeiten und moralisches Versagen geben - von den Gräueltaten des 20. Jahrhunderts bis zu intimen Momenten menschlicher Schwäche. Diese Geschichten sind oft eindrucksvoll, teils erschütternd - doch der rote Faden dazwischen wirkt nicht immer straff genug gespannt.Perrys Sprache ist elegant und atmosphärisch dicht, mit einem spürbaren Hang zum Literarischen. Die düstere, leicht entrückte Stimmung, die Prag als Schauplatz perfekt unterstützt, ist eine der großen Stärken des Romans. Auch die Idee, Schuld nicht als juristisches, sondern als existenzielles Phänomen zu betrachten, hebt Melmoth von bloßer Gruselliteratur ab.Doch genau hier liegt auch ein Problem: Der Roman will viel - vielleicht zu viel. Zwischen Gothic-Fiction, philosophischem Essay und psychologischem Drama bleibt die emotionale Wucht manchmal auf der Strecke. Die Figuren - allen voran Helen - wirken oft seltsam distanziert. Ihre inneren Kämpfe bleiben abstrakt, statt wirklich unter die Haut zu gehen. Wer eine packende Geschichte erwartet, wird stellenweise eher mit einer intellektuellen Meditation konfrontiert.Melmoth ist ein ambitionierter, atmosphärisch starker Roman mit einem interessanten Konzept. Sarah Perry beweist literarisches Können und wagt sich an große Themen. Doch nicht alles fügt sich zu einem runden Ganzen. Die emotionale Distanz, die Überfrachtung mit Motiven und das langsame Erzähltempo können das Leseerlebnis mitunter dämpfen. Ein gutes, nachdenkliches Buch - aber nicht unbedingt ein unvergessliches.