Finale manisch-depressive Gedankenspiele von einem Autor, der ganz genau weiß, worüber er schreibt.
"Diese Erkrankung ist eine Lähmung, die alle Lebensfunktionen befällt, zumal die des Kopfes. Die Gedanken waren inzwischen schwerfällig, unfrei und verkümmerten; sie kreisten nur um eine leere, schmerzhafte Mitte und warfen sich selbst ständig Unfähigkeit und Sinnlosigkeit vor." (S. 49)Bereits 2017 war ich beeindruckt von Die Welt im Rücken, worin Thomas Melle von persönlichen Dramen und langsamer Besserung im Rahmen seiner Bipolaren Störung literarisch brillant berichtet und einen außergewöhnlichen Einblick in das gibt, was in einem Erkrankten vorgehen kann. Dieses autobiografisch radikale Werk setzt er mit seinem Roman "Haus zur Sonne" fort und lotet dabei die Grenzbereiche zwischen Autobiografie und Fiktion, zwischen Sehnsucht und Depression und letztlich zwischen Leben und Tod weiter aus."Der Selbstmord ist beständig da als Gedanke, dabei wollte man doch eigentlich noch leben. Aber er bleibt und zerrt an einem und wirkt wie der einzige Ausweg. Er ist der einzige Ausweg." (S. 76)Gänzlich gefangen in der Ausweglosigkeit seiner manisch-depressiven Erkrankung fällt dem Ich-Erzähler dieses Romans ein Flyer vom "Haus zur Sonne" in die Hände. Es handelt sich dabei um ein Pilotprojekt zur kurzzeitigen Lebensverbesserung, ja sogar Traumverwirklichung, dessen finales Ziel es jedoch ist, bei der Selbstabschaffung seiner Teilnehmenden nicht nur behilflich zu sein, sondern diese auch vertraglich bindend durchzuführen.Was der Staat nicht mehr an jahrzehntelanger Sozialhilfe beisteuern muss, investiert er in den letzten Traum und hilft im Gegenzug todessehnsüchtigen Menschen dabei, überhaupt die richtige Todesart zu finden, die nicht andere mit hineinziehen würde oder unter Umständen mit enormen (und vielleicht sinnlosen, da nicht zum gewünschten Ergebnis führenden) Schmerzen verbunden sein könnte."Wir (ich spreche versuchshalber für viele) wollen ja nicht unbedingt die Selbstmordzelle wie bei ¿Futurama'. Aber einen anderen, einen menschenfreundlicheren, würdigeren Umgang und Zugang. Einen, der das Sterben nicht so kompliziert und unsicher sein ließe, und nicht so absurd und brutal. Ich will mir keine Gewalt antun. Ich will nur weg sein." (S. 258)Doch ist diese Institution wirklich ein Segen für jemanden, den seine Psyche krankheitsbedingt dazu zwingt, sich bewusst oder unbewusst jeden Tag gegen den Selbstmord entscheiden zu müssen? In diesem Roman offenbart sich in kurzen Kapiteln teilweise blitzgewitterartig, teils mit authentisch zähen depressiven Gedanken die Innenwelt des Protagonisten, der einerseits angetan ist von der Möglichkeit lautlos und menschenfreundlich um die Ecke gebracht zu werden, andererseits jedoch befürchtet einer besonders perfiden Form der fremdbestimmten Euthanasie zu erliegen.Thomas Melle lässt die Leser dabei ganz tief in die Seele und Gedankenwelt seines Protagonisten blicken. Das ist schmerzhaft, wenn man selbst Berührungspunkte mit der Erkrankung hat, aber es wird auch deutlich, dass der Autor ganz genau weiß, worüber er schreibt. Kein einfaches Thema und sicherlich kein Roman, der einen trotz gelegentlich leise anklingendem Sarkasmus fröhlich zurücklässt. Aber doch ein Buch das meine Stimmung nicht negativ beeinflusst hat, sondern vielmehr dazu eingeladen hat, Thomas Melle bei ungewöhnlichen und interessanten Gedankenspielen zu begleiten. Ein besonderes Buch und für mich ein echtes Highlight.