Raimund ist verliebt. Ungeheuer verliebt. Nur für ein paar Tage ist er aus dem dumpfen Deutschland von 1932 nach Paris gereist. Jetzt naht bereits sein Abschied von der herrlichen Teddy, die mit all ihrem Esprit dorthin ausgewandert ist. Umschwärmt wird sie von etlichen in Paris gestrandeten Gentlemen, gegen die Raimund sich behaupten muss. Als wolle er alles für immer festhalten, versucht er, die französische Freiheit mit Teddy zu genießen. Wenn er die Zukunft doch aufhalten könnte!
Jede Zeit hat ihre großen Romane. Dieser hier wurde nie veröffentlicht. 1932 auf der Schwelle zur NS-Herrschaft verfasst, besteht Sebastian Haffners Abschied einmalig gewitzt und rasant auf Weltläufigkeit, Liebe und Überschwang. Für unsere Gegenwart ist er ein Ereignis.
Besprechung vom 01.06.2025
Die Welt vor der Krise
Sebastian Haffners Roman "Abschied" ist eine wunderbare Entdeckung aus dem Nachlass
Die Dreißigerjahre! Lange waren sie weit weg, epochenweit, ein fernes Angstjahrzehnt mit Aufstieg und Sieg der Nazis, Weltwirtschaftstaumel, Zerfall Europas, neuen Kriegen an der Peripherie, Rüstungswettlauf und Rassenhass. Aber plötzlich sind sie uns wieder nah. Es gibt Bücher über den Untergang von Weimar, Gelehrtenstreit über den Anteil der Hohenzollern an Hitlers Kanzlerschaft, Verfilmungen von Kästners "Fabian" und Döblins "Berlin Alexanderplatz". Und "Babylon Berlin" geht in die fünfte Staffel. Die Angstzeit liegt jetzt um die Ecke.
Da, unverhofft, kommt ein Buch aus der Ferne geflogen, ein Nachlasswerk, noch nie veröffentlicht, das in jener Zeit zwischen Taumel und Totentanz entstanden ist und das die Stimmung jener Jahre transportiert. Es stammt, ausgerechnet, von Sebastian Haffner, dem Autor von "Anmerkungen zu Hitler", dem Herrn mit Weste und Krawatte, der im "Stern" Kolumnen schrieb, als Helmut Schmidt noch Kanzler war, und im Fernsehen mit näselnder Stimme politische Kommentare abgab. Und es ist, o Wunder, kein Buch der Politik, der Angst und der Krise, sondern etwas Feineres und Zartes: das Drama eines Liebesabschieds, die Erzählung vom Ende einer Affäre, die zu anderen Zeiten ein Leben lang hätte dauern können. Aber sie vergeht. Und das Leben geht weiter.
"Abschied" spielt an einem Samstag und einem Sonntag im Februar 1931 in Paris. Der Justizreferendar Raimund hat seine Freundin Teddy besucht, die hier studiert, er hat zwei Wochen im gleichen Hotel gewohnt wie sie, aber jetzt naht der Abend, an dem sein Zug zurückfährt nach Berlin. Und Teddy hat noch so viele andere Verehrer: den hübschen, leicht verrückten Franz, den gutmütigen Horrwitz, einen Mister Andrews aus England und einen ältere Franzosen, der nur "Herr Soundso" heißt und sie für Übersetzungen ins Spanische bezahlt. Doch dann, am Sonntagnachmittag, nimmt sie sich Zeit für Raimund, und die beiden verbringen ein paar beseligte Stunden im Louvre, am Trocadéro und auf dem Eiffelturm, in denen das Glück des vergangenen Berliner Sommers wiederkehrt. Schließlich bringt sie ihn zum Zug. Sie küssen sich, sie suchen sich, sie fassen sich durch das halboffene Zugfenster an den Händen. Irgendwann pfeift die Lokomotive zur Abfahrt. "Ich höre es noch."
Das ist alles. Das ist sehr viel: Weil es einen Moment festhält, der in unserem Bild der Dreißigerjahre regelmäßig fehlt, die kurze Phase der Helligkeit vor der historischen Verfinsterung. Und weil das alles wirklich passiert ist. Raimund Pretzel, der Ich-Erzähler, nannte sich erst im englischen Exil Sebastian Haffner, und in seiner Zeit als Referendar war er mehrmals in Paris. Und Teddy hieß Gertrude, heiratete einen Engländer und lebte später in Schweden, aber mit Haffner hielt sie noch jahrzehntelang Kontakt, wie seine Briefe in ihrem Nachlass beweisen. Man versteht sofort, warum er das Manuskript, das er im Herbst 1932 in fünf Wochen schrieb, im "Dritten Reich" und später in England nicht mehr veröffentlichen wollte. Aber man begreift auch, warum er seinem Sohn Oliver, der "Abschied" jetzt dem Hanser Verlag zum Druck überlassen hat, die Publikation erlaubte.
Denn dieses Buch ist eine Flaschenpost, die erst heute ihren wirklichen Adressaten erreicht: nicht die Nachwelt von Haffners Jahrhundert, sondern die Vorwelt der künftigen Krisen. Gerade rechtzeitig erinnert es uns daran, worum es sich gegen die Mächte der Zerstörung zu kämpfen lohnt: um den einen, unwiederholbaren Augenblick der Wunscherfüllung, die flüchtigen Spuren des Glücks. Wie er seinen Kampf gegen die Nazis weiterführte, hat Haffner, der 1999 starb, in seinen postum erschienenen Lebenserinnerungen "Geschichte eines Deutschen" geschildert. "Abschied" ist dazu der strahlende Prolog. Der näselnde Herr mit Weste und Krawatte - auch er war einmal jung. Andreas Kilb
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