Besprechung vom 20.09.2024
Jetzt kommt der anorganische Akteur
Gegen ein naives Informationsverständnis: Yuval Noah Harari macht sich daran, die Folgen der Künstlichen Intelligenz zu ergründen
Etwas ist anders - nur was genau? Seitdem Computer so kompetent mit Sprache umgehen können, wie dies moderne Chatbots vermögen, hat die Diskussion um die Künstliche Intelligenz und ihre Grenzen eine neue Ebene erreicht: Irgendwie beschäftigen sich alle damit. Eben nicht nur Informatiker. Eben nicht nur Nerds in einer noblen Nische. Sondern Vertreter anderer wissenschaftlicher Disziplinen genauso wie Politiker, Unternehmer oder die gängigen Allzweckdeuter.
Sie nähern sich dem Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven. Informatiker aus derjenigen der Lernalgorithmen-Architekturen und des logischen Schließens, Kognitionswissenschaftler wie der im April verstorbene Daniel Dennett oder António Damásio aus derjenigen der Gehirnleistungsfähigkeit. Wirtschaftswissenschaftler wie Bruno Frey oder Mathias Binswanger wiederum aus dem ökonomischen Kalkül heraus, was infolge der KI-Entwicklung billiger oder knapper wird - mit den praktischen Folgen für die Berufswahl ebenso wie für Markt- und Machtstrukturen. Sie alle eint der berechtigte Verdacht, dass die KI nicht einfach die Weiterentwicklung von etwas Bestehendem ist, oder ein hilfreiches neues Instrument wie der Rasenmäher oder die Kaffeemaschine. Doch was genau ist nun anders?
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari unternimmt mit seinem neuen Buch "Nexus" den Versuch, zwischen der Zeit vor der allgemein zugänglichen Sprach-KI und der Gegenwart zu vermitteln. Er greift auf Anekdoten aus dem Altertum zurück, aus dem Mittelalter und den beiden Weltkriegen, er vergleicht politische Systeme und Gesellschaftsentwürfe, beschreibt Institutionen, Religionen - und versucht, sie im Kern auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, der sich um zwei Begriffe dreht: den der Information und den des Informationsnetzwerkes.
Informationen leiten menschliches Handeln an, verändern es, orientieren es neu; sie sind in seiner Terminologie aber weit mehr als nur Grundbausteine einer neutral vermessungsfähigen Realität. Immer mehr Informationen verfügbar zu haben führe nicht automatisch zu mehr Wissen, Verständnis und Weisheit. Harari grenzt seine Sicht klar von dem ab, was er "naives Informationsverständnis" nennt - und damit zumindest in dieser Hinsicht von einer Sichtweise, für die etwa David Hilbert, Pierre-Simon Laplace oder auch Gottfried Wilhelm Leibniz standen, und die auch so etwas wie das Glaubensbekenntnis der modernen Informationstechnologie und Wissenschaft ist: Dass mit mehr Daten und Rechenleistung irgendwann automatisch die Wahrheit durchbricht.
Aus Hararis Sichtweise informieren Informationen natürlich, beinahe noch mehr aber formieren sie, nämlich jene Informationsnetzwerke, die der besagte zweite Baustein sind. Darunter fallen die Großfamilie, die Dorfgemeinschaft oder der Freundeskreis im Kleinen, dazu zählt er Weltreligionen, Handelsverflechtungen, Nationen im Großen. Sie basieren auf einer mehr oder weniger ausgefeilten Mythologie einerseits und einer sie ordnenden Bürokratie andererseits.
Eine Information muss in diesem Sinne eben nicht wahr sein oder zwingend dem Wahrheitsgewinn dienen. Vornehmlich verbindet sie. Und sie ermöglicht es, zu sortieren, zu archivieren und gezielt einzugreifen. Insofern sorgt sie dafür, dass solche Informationsnetzwerke teilweise Jahrtausende überstehen und in der Lage sind, sich zu stabilisieren und selbst zu korrigieren. Informationsnetzwerke sind Harari zufolge eben keine von Natur aus objektiven Wirklichkeiten, sondern das, was er intersubjektive Übereinkünfte nennt. Warum manche stabil sind und andere nicht, das illustriert er an ausgewählten Beispielen, etwa am römischen Reich, an der katholischen Kirche, an der Entstehung des Staates Israel, an der chinesischen Qin-Dynastie.
Hararis geschickter Zugriff besteht darin, dass er gängige Unterscheidungen einebnet, in dem er etwa alles Lebende letztlich auf Informationen verarbeitende Entitäten reduziert und so wiederum Abgrenzungen vornehmen kann, die sich allein an den Kanälen orientieren, über die Netzwerke Informationen aufnehmen, verarbeiten und auf Irritationen reagieren. Er schafft es auf diese Weise, eine zeitliche Entwicklung verschiedener Technologien - mehr ist das aus seiner Sicht jeweils nicht - darzustellen, mithilfe derer Informationsnetzwerke entstehen, wachsen oder verschwinden: Die (mündliche) Erzählung ist eine davon, das einzelne Dokument eine weitere, religionsstiftende Schriften sind eine dritte. Und er beschreibt wichtige Verbreitungsmöglichkeiten wie die händische Abschrift, die Erfindung des Buchdrucks, des Telegrafen, der Eisenbahn, des Radios oder Fernsehens. Falsch- und Desinformationskampagnen mit grausamen Folgen gab es bekanntlich auch lange vor dem Internet schon, Harari geht auf Stalin, den deutschen Nationalsozialismus und Heinrich Kramers Hexenhammer ein.
Aber was genau ändert sich nun durch KI? Bislang habe jedes Informationsnetzwerk menschliche Mythenerzähler und Bürokratien benötigt, immer blieb es letztlich die Aufgabe der Menschen, Texte zu verfassen, zu interpretieren und über andere Menschen zu entscheiden, bilanziert Harari. Und er mutmaßt: Womöglich verlaufe der Graben des 21. Jahrhunderts am Ende nicht zwischen Demokratien und Autokratien, sondern zwischen menschlichen und nichtmenschlichen, anorganischen Akteuren sozusagen. Weil Computer erstmals eigene Entscheidungen träfen und in der Lage seien, Neues zu schaffen.
An dieser Stelle muss man diesem glänzenden Erzähler durchaus nicht folgen. Ob die großen KI-Sprachmodelle mehr tun, als aus den in sie hineingesteckten Datenmengen bestimmte Zusammenstellungen zu extrahieren, ist eine offene Frage. Über einen Willen, Macht zu übernehmen, verfügen sie jedenfalls nicht. Dem Autor vorzuwerfen, er spreche nur eine banale Warnung aus, weil jede neue Schlüsseltechnologie Gefahren birgt und schlimmste Folgen haben könnte, greift indes auch zu kurz. Durch seine Begriffswahl macht Harari die moderne IT vermittelbar wie wenige andere. ALEXANDER ARMBRUSTER
Yuval Noah Harari: "Nexus". Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn. Penguin Verlag, München 2024. 656 S., geb.
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