Besprechung vom 16.05.2022
Wunderkammer der Erfinder
Streifzug durch das Deutsche Museum in München
Jeder, der in München aufgewachsen ist, war als Kind schon mindestens einmal im Deutschen Museum, heißt es. Tatsächlich gilt das 1903 gegründete Haus auf der Isarinsel als größtes Wissenschafts- und Technikmuseum der Welt. Es zählt 1,5 Millionen Besucher jährlich. Von den 125 000 Objekten seiner Sammlung aus 54 Fachgebieten sind 25 000 Exponate permanent zu sehen. Ausstellungen etwa zu Astronomie, Zeitmessung und Bergbau, Physik oder Pharmazie, oft einprägsam als lineare Fortschrittsgeschichten dargeboten, präsentieren einem breiten Publikum Wissenswertes aus Naturwissenschaft und Technik. Das geschieht, wo immer möglich, zum Anfassen und Mitmachen, getreu dem pädagogischen Ziel von Museumsinitiator Oskar von Miller. Geschichte, Thematik und Vermittlungsprinzipien stellt jetzt der heutige Chef des Hauses, Wolfgang M. Heckl, in einer knapp 700 Seiten langen Publikation vor. Vom venezianischen Cembalo aus dem 16. Jahrhundert über den ersten Benz-Motorwagen und Röntgens Schattenbild von der durchleuchteten Hand seiner Frau mit Fingerknochen und Ehering bis zum aktuellen Covid-19-Impfstoff von Biontech reicht dort der Zeitbogen. Der seit 2004 amtierende Generaldirektor führt an 100 Beispielen aus der Feder kundiger Mitarbeiter in einer Mischung aus Enzyklopädie, Chronologie und Kuriositätenkabinett Preziosen der letzten 500 Jahre aus seiner Münchner Institution vor.
Das Team um den Herausgeber werkelte fünf Jahre an dem zwei Kilo schweren Sammelband. Das Resultat ist ein Buch, das "die Astronomie des 15. Jahrhunderts genauso abbildet wie die Robotik des 21. Jahrhunderts, das Leeuwenhoek'sche Mikroskop neben den Fischerdübel stellt und zu allen eine interessante Geschichte erzählt". Die bildreiche Mixtur will bewusst kein Inventar der "Meisterwerke" des Museums sein, auch wenn viele gezeigte Objekte auf die einstige Wunschliste von Gründervater Oskar von Miller zurückgehen: "Die größten und prächtigsten Stücke des Hauses werden vorgestellt, aber auch kleine, unscheinbare, millionenfach hergestellte Massenartikel ebenso wie unbezahlbare Prototypen oder kurios anmutende technische Spielereien," schreibt Heckl im Vorwort. Tatsächlich wurden bei der Auswahl nicht nur historisch bedeutsame, oft preisgekrönte Exponate berücksichtigt, sondern auch Serienprodukte mit Alltagsrelevanz, die beispielhaft für technische Entwicklungen stehen.
Der Parcours der Objekte beginnt mit dem 1561 erfundenen Multifunktionszirkel. Wenig später folgen Astrolabium, Klappsonnenuhr und ein frühes Mikroskop, ein paar Jahrzehnte danach Rechenmaschine, Reisebarometer und Stangenpresse und in immer kürzeren Intervallen wundersame Erfindungen der nächsten Jahrhunderte, bis der Lauf nahe der Gegenwart bei Supraleitendem Hohlspiegel, Gezeitenturbinen, Robotsystemen und schließlich 2021 beim Mainzer Covid-Impfstoff anlangt. Zur Veranschaulichung von verändertem sozialen Bewusstsein wird auch eine Umhängetasche aus recyclierten Safttüten gezeigt. Als Tenor bleibt, wie die Menschen seit einem halben Jahrtausend die Welt durch Wissenschaft und Technik veränderten. Der Leser erfährt, was zur jeweiligen Erfindung führte, wie das Objekt die Beziehung der Menschen zur Wirklichkeit beeinflusste und auf welchen Wegen es ins Deutsche Museum fand.
Wirtschaftliche Aspekte stehen dabei nicht immer an vorderster Front. Doch Innovationen wie die legendäre "Spinning Jenny", ein automatisiertes Spinnrad von 1764 aus dem englischen Lancashire, das als Meilenstein der industriellen Revolution gilt, lassen Ökonomie auf ungeahnte Weise lebendig werden. Höhepunkte des Buches sind die Kapitel über Maschinisierung, Motorisierung und Elektrifizierung mit ihren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Dass nicht immer nur große Dinge Geschichte machten, zeigt der Hinweis auf "Alltagshelfer in der Wirtschaftswunderzeit", als Küchenmaschinen aufkamen. Dazu passt, dass beim Rückblick auf vergangene Zeiten nicht bloß Leuchtturmobjekte und geglückte Entwicklungen eine Rolle spielen. Im Gegenteil: "Viel häufiger als Erfolgsgeschichten sind Geschichten des technischen Scheiterns, bei denen es nicht gelingt, Entdeckungen oder Erfindungen weiterzuentwickeln, die am Markt reüssieren und als Konsumgüter auf unser Leben Einfluss nehmen." Als Bespiel wird der stromlinienförmige "Rumpler Tropfenwagen" genannt, von dem nur rund 100 Exemplare gebaut wurden. Offenbar war das aerodynamische Design des Automobils für den Geschmack um 1922 zu futuristisch. Das stromlinienförmige Vehikel überlebte als Requisit in Fritz Langs Kinofilm "Metropolis".
Eines der ausladendsten Exponate im vorliegenden Buch ist Wilbur Wrights motorisierter Doppeldecker Model A von 1903 mit einer Flügelspannweite von 12,5 Metern. Auf Riesenobjekte dieser Art verzichtet die Sammlungspolitik des Hauses seit geraumer Zeit. Der Grund: "Notorischer Mangel an Depotfläche" sei ein ungelöstes Problem, das die Möglichkeiten drastisch begrenze, Großprojekte wie Flugzeuge oder Schiffe zu sammeln. Als Publikumsmagnete fehlen sie. Auch Heckls attraktives Buch kann Selbsterlebtes vor Ort nicht ersetzen. Doch weckt es den Appetit auf einen Besuch beim Münchner Hotspot menschlichen Forscher- und Erfindergeists. Das bildungsorientierte Mitmacher-Prinzip des Museums, das wohl schon Oskar von Miller vorschwebte, dürfte weiterhin nicht nur bei jungen MINT-Begeisterten Anklang finden. ULLA FÖLSING
Wolfgang M. Heckl (Hrsg.): Die Welt der Technik in 100 Objekten, C. H. Beck, München 2022, 686 Seiten
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