Besprechung vom 15.08.2024
Ein Festessen des Grotesken
T. C. Boyle wandelt zwischen Regentropfen
Dieser Autor will seine Leser erschüttern. In dem Band "I Walk Between the Raindrops" radikalisiert T. C. Boyle vermeintlich harmlose Alltagsszenen durch einschneidende Wendepunkte. Das sorgt bestenfalls für Faszination, schlimmstenfalls für Entsetzen: Kann es sein, dass wir wirklich in so einer Welt leben?
Der Band birgt dreizehn Kurzgeschichten. Die Protagonisten könnten unterschiedlicher nicht sein: Ehepaare mittleren Alters, Studenten, Jugendliche, junge Lehrer, die älteste Frau der Welt, zerstrittene Familien. Ihre Einzelschicksale entwickelt Boyle ideenreich mit einer dramatischen Eigendynamik. Sei es ein Student, der sich über den mörderischen Amoklauf eines Kommilitonen freut, ein Familienvater, der sich wegen einer Wohnung verzockt. Oder ein ganzes Fischerdorf, das am helllichten Tag dem Wahnsinn verfällt. Mal befindet sich der Schauplatz in Südfrankreich oder vor der japanischen Küste, meist aber in den Vereinigten Staaten. In zwei Geschichten entwirft Boyle technologisierte Dystopien voller Überwachungsmaschinen, die übrigen Handlungen könnten sich so oder auf ähnliche Weise in unserem Alltag ereignen. Das Ende entwirft der amerikanische Schriftsteller immer pointiert - manchmal bleibt es offen, immer überrascht es.
Diese Kurzgeschichten sind spannungsgeladen. Plastisch beschreibt Boyle das Setting, flankiert von knapper wörtlicher Rede. Seine Schlagworte - Sturzfluten, Serienkiller, Drohnenautos - erzeugen unmittelbar Bilder im Kopf. Neugierig macht der Autor auch durch Sätze wie "Mehr dazu später" oder "Ich will hier nur klarstellen, dass nicht ich derjenige war, der den anonymen Brief geschrieben hat". Dann schweift er gekonnt ab und kehrt erst nach einigen Seiten wieder zum Haupterzählstrang zurück. Dadurch entsteht ein Sog, der die Leser direkt in die Geschichte hineinzieht. Sehr unterhaltsam machen "I Walk Between the Raindrops" außerdem anschauliche Formulierungen. Zum Beispiel die Beschreibung eines Medizinstudenten: Er sei "so sympathisch wie ein verschlossenes Konservenglas hoch oben im Regal". Oder die Halluzinationen eines vergifteten Fischers: "Der Fluss schien zu lodern mit leckenden Feuerzungen."
Doch Boyle übertreibt. Er überlädt die Erzählungen mit absurden Wendungen. Etwa bei der Geschichte des vom Wahnsinn erfassten Dorfs, in der die Grenzen zwischen Psychose und Realität bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen und das Groteske zum bestimmenden Element wird. Das kann man nicht ernst nehmen. Die Kurzgeschichten sind wie ein Festessen mit dreizehn Gängen, das von jedem Gewürz ein bisschen zu viel bekommen hat. Es ist nur langsam und mit Vorsicht genießbar, schnell schmeckt es zu intensiv. Boyles fordernde Geschichten sind Geschmackssache, nicht für Zartbesaitete geeignet. JOHANN THÖMING
T. C. Boyle:
"I Walk Between the
Raindrops". Stories.
Hanser Verlag,
München 2024. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren und Anette Grube.
272 S., geb.
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