»Mir fällt kein anderer Text ein, der die gestörte Zeit, in der wir leben, besser einfängt als dieser. « Michelle Goldberg, »New York Times«
Bestseller-Autorin Naomi Klein liefert eine unvergleichliche Gegenwartsanalyse und eine intellektuelle Abenteuergeschichte für unsere Zeit. Es wurde zum Buch des Jahres von The Times, The Observer, Prospect und Daily Express gewählt.
Naomi Klein machte während der Corona-Epidemie eine verstörende Entdeckung: Im Netz und auf Social Media ist eine andere Naomi unterwegs, mit der sie andauernd verwechselt wird. Diese andere Naomi war früher eine anerkannte Feministin und ist nun auf die Seite der Verschwörungstheoretiker weit nach rechts gerückt. Sie verkörpert all das, wogegen Naomi Klein ein Leben lang gekämpft hat. Das ist der Ausgangspunkt der Analyse in ihrem neuen Buch. Indem sie ihrer Doppelgängerin nachforscht, gelingt ihr eine Deutung unserer verrückten Gegenwart, in der die Grenzen zwischen rechts und links, richtig und falsch, Fakt und Meinung verschwimmen. In dieser Welt, in der liberale Demokratien am Rande der Autokratie taumeln, KI für uns kommuniziert und der Hass sich online ausbreitet, während gleichzeitig unsere Wälder brennen und der Meeresspiegel unaufhaltsam ansteigt, scheint die Realität selbst aus den Fugen geraten zu sein.
Besprechung vom 12.11.2024
Ich bin nur ein Opfer des Kapitalismus
Naomi Klein liefert eine brauchbare Analyse unserer Gegenwart - bis sie Israel in den Blick nimmt
Covid ist schuld. An diesem Buch, wie Naomi Klein gleich zu Beginn einräumt, und an noch viel mehr, wie man erst nach und nach erkennt. Das zielt nicht auf die unmittelbaren Gefahren des Virus, sondern auf die gesellschaftlichen Kollateralschäden: "Dauerstress und Isolation". Naomi Klein hatte, wie so viele, unter diesen Bedingungen das Bedürfnis, im Internet "nach einer Simulation der Freundschaften und Gemeinschaften" zu suchen, die im echten Leben auf Pause gestellt waren: "Am meisten schäme ich mich für die zahllosen Podcasts, die ich mir reinzog."
Zur Obsession sei es dabei geworden, einer rechten Publizistin und Impfgegnerin zu folgen, die denselben Vornamen trägt und mit der die Autorin in der oberflächlichen Medienwelt mehrfach verwechselt wurde: Naomi Wolf. Es gibt weitere Parallelen, so war auch Wolf einst Aktivistin, hatte 1990 ein erfolgreiches feministisches Buch geschrieben ("Der Mythos Schönheit") und sich für Bill Clinton und Al Gore engagiert, bevor ihre Thesen in immer bedenklichere Schieflage gerieten. Außerdem haben beide Autorinnen einen liberalen jüdischen Hintergrund. Auch wenn von Naomi Wolf seit Jahren abstruse Verschwörungstheorien zu hören sind (Impfpässe seien gleichbedeutend mit "Sklaverei für immer"), betrachtet Naomi Klein sie als verzerrtes Spiegelbild ihrer selbst, als "Doppelgängerin".
Dass aktivistische Sachbücher aus der Perspektive eines starken Ichs erzählt werden, ist nicht neu, aber für den langen Einstieg in "Doppelgänger" braucht man Geduld. Es verwundert, wie häufig die Autorin die teilweise nur von der Google-Autovervollständigung verursachte Verwechslung mit der "Anderen Naomi" beklagt, zumal die Autorin von "No Logo" (2000) einmal gegen jedes Self-Branding zu Felde gezogen ist. Dennoch längst selbst zu einer Marke geworden, scheint sie sich nun um deren Schutz zu sorgen.
Es spricht für sie, dass sie genau das thematisiert. Sogar nach Millionenverkäufen habe sie sich noch eingeredet, wenigstens "eine medienkritische Marke zu sein": "Dieses Theater hatte etwas Unaufrichtiges, das ist mir jetzt klar." Das gilt freilich auch für die Koketterie dieser Selbstkritik, die nicht zuletzt dazu dient, in einiger Breite noch einmal die eigene Bedeutung für den Diskurs über den Neoliberalismus herauszustellen.
Der Umweg über das Selbst ist aber nicht ungeschickt, führt er doch mitten hinein ins Thema der Selbstvervielfachung im digitalen Zeitalter, in dem es ganz normal geworden ist, auf persönlichen Websites oder in sozialen Medien perfektionierte Avatare unserer selbst zu kreieren. In Naomi Kleins Fall handelt es sich um eine doppelte Verdopplung: einmal zur Marke Naomi Klein, als solche dann zur Antimarke Naomi Wolf, die wie der "fratzenhafte" Zwilling der Autorin wirke, teils über ähnliche Themen spreche, allerdings mit entgegengesetzter Stoßrichtung. Das habe Erstere fast zum Verstummen gebracht. Klein fühlt sich an Doppelgängerromane erinnert, in denen Figuren um den Preis der eigenen Auslöschung gegen alternative Versionen ihrer selbst kämpfen.
Diese persönlich erlebte (und argumentativ übersteigerte) Verunsicherung wird im nächsten Schritt hochskaliert zur Diagnose "unserer gestörten Gegenwart". Überall findet die Autorin Dopplungen und schizophrene Ich-Spaltungen: ein Spiegelkabinett der Ängste und Thesen. Selbst empathische Gutmenschen schleppten hierzulande immer einen ausbeuterischen Zwilling mit sich herum, schreibt sie mit Blick auf Sweatshops in Entwicklungsländern.
Am wichtigsten aber bleibt ihr der Blick auf die auch in sich zersplitterte liberale Linke, der "in sehr viel größerem Ausmaß widerfahren" sei, was Klein mit der Anderen Naomi widerfuhr: "Und jetzt wird unsere Kritik an oligarchischer Herrschaft von der extremen Rechten aufgegriffen und in einen sinistren Doppelgänger ihrer selbst verwandelt." Gemeint sind rechte Multiplikatoren wie Tucker Carlson, Steve Bannon, J. D. Vance oder Giorgia Meloni, die sich gern als Gegner einer Überwachungsgesellschaft, des stumpfen Konsums oder des militärisch-industriellen Komplexes geben, allerdings für die Missstände Migranten, Juden oder Impffanatiker verantwortlich machen und mit Frieden die Preisgabe der Ukraine meinen. Naomi Wolf, aus der liberalen Blase mit Spott vertrieben, mischte in diesen Kreisen kräftig mit, wie Klein zeigt. Ihre wirren Thesen verbreitete sie etwa als Dauergast im "War Room" von Steve Bannon.
Die an der Linken geschulte Medienstrategie rechter Influencer ist freilich gut erforscht. Interessanter als die mäßig originelle Großthese ist denn auch die umfangreiche Detailbetrachtung all der Äußerungen aus dem Bannon/Wolf-Lager. Das gehört zu einer oft geforderten Aufarbeitung der Covid-Ära schließlich dazu: den skurrilen, aber gefährlichen Schwachsinn zu dokumentieren, der von Querdenker-Fraktionen verbreitet wurde.
Gut belegen kann Klein auch die zunehmende Konvergenz der ehemals getrennten Szenen der esoterischen Alternativmedizin und des strammen Neofaschismus, was unter anderem zu Ungeheuerlichkeiten wie den gelben "Ungeimpft"-Sternaufnähern führte. Letzteres wiederum ein Beleg für die Spiegelung der Argumentationen: Rechtsextreme Meinungsführer werfen dem liberalen Staat gern Faschismus vor.
Tatsächlich, so Klein, seien manche Covid-Maßnahmen wie Schulschließungen zu wenig infrage gestellt worden. Auch würden viele Krisen durchaus "von geheimen Mächten manipuliert", womit die Autorin Geheimdienste ebenso meint wie Büttel des "kapitalistischen Imperativs". Zumindest andeutungshaft lässt sich an anderer Stelle allerdings die Einsicht erkennen, dass linke aktivistische Bücher - wie die ihren - selbst eine gewisse Kassandra-Aura besitzen, wenn sie dem "System" entgegentreten. Auch wenn Klein weiter darauf beharrt, dass alle ihre Thesen stets auf Recherchen beruhen, nicht auf einem puren Gefühl.
Es ist der vorsichtige Versuch, eine Brücke zu bauen: Für so absurd und menschenverachtend sie die Forderungen der Querdenker und Trumpisten auch hält, Klein will die Skepsis an sich nicht diskreditieren, sondern umlenken auf den wahren Schuldigen: den Kapitalismus. Damit schlägt das Buch um in das Manifest einer linken Sozialutopie: Die jahrzehntelange, neoliberale "Desozialisierung" mit ihrer Übersteigerung des Individuums - "ein Zuviel an Ich" -, was vielerorts bereits in Faschismus kippe, müsse durch ein solidarisch-kollektives Gemeinwesen, einen demokratischen Sozialismus, wie ihn Rosa Luxemburg oder Bernie Sanders gefordert hätten, ersetzt werden. "Entselbstung" nennt die Autorin das, fordert einen inklusiven "Universalismus" und den Übergang von Worten zur Tat: die Gründung von kollektiven Organisationen.
Obwohl es einer gewissen Komik nicht entbehrt, wenn ein Buch, das auf jeder Seite lautstark "ich" ruft, für Ich-Zurückhaltung plädiert, gibt es gute Argumente für mehr Gemeinsinn. Dass es damit dann doch nicht so weit her ist, zeigt ein beschämendes Kapitel am Ende des Buchs. Das ganz in naiver linker Tradition stehende, offenbar vor dem Angriff der Hamas geschriebene Kapitel zur Nahostfrage hält dem Staat Israel (nicht nur der jetzigen Regierung) vor, ein zutiefst kolonialistisches Projekt zu sein, zudem ein Doppelgänger jenes europäischen Nationalismus, unter dem die Juden so sehr zu leiden hatten. Man müsse angesichts des von Naomi Klein abgelehnten "Zionismus" erkennen, dass "ein Volk Opfer und Täter zugleich sein kann".
Klar verteilt ist für die langjährige BDS-Unterstützerin die Schuld im Nahen Osten. Iran wird kein einziges Mal erwähnt. Zustimmend zitiert Klein dafür die Einordnung der Palästinenser als "Die neuen Juden" durch den Politikwissenschaftler Joseph Massad, einen Professor für Nahoststudien an der New Yorker Columbia-Universität. Er hat den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober freudig als "Widerstandsoffensive" begrüßt, musste sich dafür vor der Universitätsleitung verantworten, bleib aber im Amt. Bestraft werden sollten nun die, heißt es bei Klein, "die friedliche Boykotte als unverzichtbares politisches Druckmittel unterstützen".
Um die zwar als Jüdin, aber in Ferndiagnose vorgenommene Kritik an einer israelischen "Identität, die auf Retraumatisierung aufgebaut ist", mit Vor-Ort-Kenntnissen zu beglaubigen, berichtet Klein von einer Reise nach Israel und Gaza im Jahr 2009. Bei der Rückkehr aus Gaza habe ein israelischer Offizier ihrem Ehemann, dem Filmemacher Avi Lewis, gesagt, sie hätten in großer Gefahr geschwebt ("Wir sehen und hören alles, was drüben vorgeht"); fast hätte man zu ihrem Schutz Panzer losgeschickt. "Gaslighting" ist das für Klein, also psychische Manipulation. Dass Menschen wie sie wegen ihrer "Jüdischkeit . . . von der Hamas entführt oder getötet werden, meine törichte Unterstützung der Palästinenser hin oder her", das kann und will sie einfach nicht glauben. Dieser Glaube hätte sie am 7. Oktober 2023 nicht beschützt. OLIVER JUNGEN
Naomi Klein: "Doppelgänger". Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart.
Aus dem Englischen von Peter Robert und Rita Seuß. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 496 S., geb.
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