
Russland, China, USA, NATO - Wie geht es weiter in der Welt?
Die politische Zukunft der Welt ist offen. 'Szenario': Das Buch der Optionen
Die politische Zukunft der Welt ist offen: Ihr Auftrag, sollten Sie ihn annehmen, ist, die Zukunft durch Ihre Entscheidungen zu gestalten. Wer sind Sie? Sie sitzen in der zweiten Reihe der Weltpolitik, Sie entscheiden nicht selbst, sondern empfehlen. Sie haben keine Exekutivgewalt, keine Truppen, keine Satellitenflotten. Was Ihnen zur Verfügung steht, sind Muster, Daten, Erfahrung - und ein Gefühl für Dynamik. Sie erkennen Zusammenhänge, bevor sie offizielle Bezeichnungen bekommen, Sie stellen Fragen, die sonst keiner stellt, Sie hinterfragen Allgemeinplätze und Annahmen, Sie erklären Sachverhalte sowohl Politikern als auch der Öffentlichkeit. Ihr Werkzeug ist das Szenario, Ihr Hebel die Frage: Was wäre, wenn?
Die Zukunft erscheint offener, furchteinflößender als vor wenigen Jahren. Wie sie aussieht, hängt nicht nur von Russland und den USA ab, sondern von einer großen Anzahl von Akteuren. Wir bekommen so das Gefühl zurück, dass auch wir eine Rolle in unserer eigenen Zukunft spielen, indem wir uns bewusst machen, was wir tatsächlich wissen, was wir nicht wissen und durch Annahmen ersetzt haben, und vor allem, welche Handlungsoptionen es gibt.
Florence Gaub lädt dazu ein, selbst außenpolitische Entscheidungen zu treffen: Anstatt nur Zuschauer mehr oder weniger plausibler Szenarien zu sein, folgt man unterschiedlichen Entscheidungspfaden. Das Buch vermittelt Einblicke in mögliche Entscheidungsprozesse, und ein Gefühl der Selbstbestimmung.
Besprechung vom 23.11.2025
Was wäre, wenn?
Sie sitzen in der Brüsseler U-Bahn, lesen Nachrichten auf dem Handy, da erscheint die Meldung von der Havarie eines norwegischen Forschungsschiffs auf dem Display. Ein Unfall? Ein russischer Angriff? Was ist zu tun? Florence Gaub macht ihre Leser in "Szenario" zu Agenten einer Simulation, die zeigt, wie viel Einfluss wir auf die Zukunft haben.
Von Julia Encke
Das Cover sieht ein bisschen aus wie das Foto eines futuristischen Brettspiels, mit vier Miniatursoldaten als Spielfiguren, einem Kampfflugzeug, einer roten Fahne, einer Kommandozentrale und einem roten Atomknopf. Darüber steht in großen Buchstaben: "Szenario - Die Zukunft steht auf dem Spiel". Es ist der Titel des neuen Buchs von Florence Gaub, Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin am NATO Defense College in Rom. Kein Spiel also. Oder doch? Ein Kriegsspiel womöglich?
Schlägt man den Band auf, merkt man schnell, dass es sich hier nicht um einen konventionellen Essay handelt oder um eine wissenschaftliche Studie. "Nur wer der Gegenwart alles gibt, handelt wahrhaft großzügig gegenüber der Zukunft", steht vorweg im Motto, ein Zitat aus Albert Camus' "Der Mensch in der Revolte". Daneben, etwas kleiner, ein Disclaimer: "Die geäußerten Meinungen geben die Ansichten der Autorin wieder, nicht die ihres Arbeitgebers". "Szenario" soll also kein NATO-Buch sein. Blättert man dann weiter, stehen alle paar Seiten fett markierte "nächste Optionen", Pfeile, die zu späteren Abschnitten führen, Daten, Uhrzeiten, Orte. Und es fällt ins Auge, dass man als Leserin oder Leser im Text direkt adressiert wird. Vom ersten Satz an ist man in das Geschehen, um das es hier geht, involviert und Teil des - Spiels: Man wird angesprochen, verwandelt sich in eine handelnde Figur der Erzählung, gibt Ratschläge, fliegt nach China oder Russland, trifft Entscheidungen. Und hat, anders als in der Realität, die Option, diese auch wieder rückgängig zu machen.
Denn Gaub, die Regierungen und internationale Organisationen anhand von Zukunftsszenarien und Trendanalysen berät, folgt in diesem Buch einem Konzept, das auf der Buchserie "Choose your own adventures" beruht, die der amerikanische Anwalt und ehemalige Marineoffizier Edward Packard 1976 startete. Die Idee dafür kam Packard, weil er seinen Kindern ständig Gutenachtgeschichten erzählen musste. Im Unterschied zu herkömmlichen Büchern entscheidet jeder Leser darüber, wie es weitergeht. Am Ende jedes Abschnitts muss er wählen, was er als Nächstes tut, und landet dann auf einer anderen Seite. Ganz individuell bahnt er sich seinen Weg durch die Geschichte, die er so selbst entwirft. Es ist sein "Szenario", ein Begriff, der, daran erinnert Gaub, aus der Commedia dell'Arte kommt, dem italienischen Theater. Die Schauspieler improvisierten Dialoge und Aktionen, die auf einem vereinbarten "Scenario" beruhten, einem Blatt Papier, das hinter der Bühne die Grundelemente der Szene auflistete. Und auch heute, schreibt Florence Gaub, sei "ein Szenario in der Zukunftsforschung ein Werk der Improvisation". Es gehe nie darum, alles haargenau zu beschreiben und festzulegen, sondern darum, die Linien und Zusammenhänge zu erkennen und mit ihnen zu spielen.
Die Autorin hat damit die Grundzüge ihres interaktiven Projekts beschrieben. Was sie ihre Leser durchführen lässt, ist ein Gegenentwurf zum geopolitischen Großerklärertum, das, über Karten gebeugt, gerne eine auktoriale Perspektive einnimmt und aus großer Distanz das Weltgeschehen mit unerschütterlicher Sicherheit zu überblicken vorgibt, während jene, denen die Weltlage erläutert wird, passive Zuschauer bleiben. Gegen diese Passivität tritt Florence Gaub an. Gerade in Deutschland, schreibt sie in ihrem Vorwort, begegne sie immer wieder Menschen, die sich selbst nicht als Akteure in der Entwicklung der Zukunft sehen, sondern als Zuschauer. Das zeige sich auch an Umfragen: "71 Prozent der Deutschen denken, ihr Leben und Erfolg seien allem voran das Ergebnis äußerer Umstände - in den USA denken das gerade mal 36 Prozent", sagt sie. "Und nur 25 Prozent der Deutschen glauben, man könne durch Leistung sozial aufsteigen - in Schweden sind das 70 Prozent."
Diese fatalistische Haltung, Dinge als bereits entschieden wahrzunehmen, zeigt sich für sie auch dort, wo es um Weltpolitik geht. Allein die regelmäßig und traditionell mit reißerischen Endzeit- und Untergangstiteln veröffentlichten politischen Vorhersagen führten das vor Augen - inspiriert von Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" (1918) seien das "Armageddon and The Coming War With Russia" von Jerry Falwell (1980) genauso wie George Friedmans "The Coming War with Japan" (1991) bis hin zu Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" (1996). Wobei auffällig sei, dass die meisten großen Würfe in Sachen Zukunft der Weltpolitik am Ende mehr oder weniger danebenlägen. Nur schaue am Ende niemand mehr hin, um es zu prüfen.
Florence Gaub wundert sich nicht darüber, dass diese großen Erzählungen politischer Vorhersagen so wenig zutreffen. Zukunft ist für sie nicht geeignet für den Überblick, sie sei vielmehr "messy": "Sie ist das Ergebnis von Trends, von unverrückbaren physischen Realitäten, von Entscheidungen aberwitzig vieler Akteure, von kleinen und großen Überraschungen, die niemand hat kommen sehen", heißt es in "Szenario". Weshalb der einzige Weg, die Unordnung greifbar zu machen, das Durchdenken von Handlungsketten und Dominoeffekten in alle Richtungen sei. Dazu lädt sie ein. Ihre Leserinnen und Leser wählen also nicht, wie bei Edward Packard, vorrangig "ihr eigenes Abenteuer", sondern durchdenken, "welche Handlungen und Entscheidungen zu welcher Zukunft führen". Genau das macht Gaubs Unterfangen weniger zum Militärspiel, als zur Erkundung von Möglichkeitsräumen und zur Schule taktischen Denkens. Dass ihr manche dennoch einen Militarisierungs-Effekt unterstellen werden, weil sie sich dabei des Genres des Gesellschaftsspiels bedient, lässt sich wohl kaum verhindern.
Ein paar Rahmenbedingungen schickt sie vorweg. Start der Handlung ist der 21. März 2030 um 8:38 Uhr in Brüssel. Vorgaben über die Rolle, die man einnimmt, gibt es auch: "Sie arbeiten nicht für eine Nation, sondern für die Zukunft an sich." Man habe deshalb auch keine Exekutivgewalt, keine Truppen, keine Satellitenflotten. Was einem zur Verfügung stehe, seien Muster, Daten, Erfahrungen - und ein Gefühl für Dynamik: "Sie erkennen Zusammenhänge, bevor sie offizielle Bezeichnungen bekommen, Sie stellen Fragen, die sonst keiner stellt. Ihr Hebel ist die Frage: Was wäre wenn? Ihre größte Herausforderung? Nicht die Zukunft vorherzusagen. Sondern sie so zu rahmen, dass andere sich darin zurechtfinden. Und dann entscheiden - bevor es zu spät ist."
Das klingt nach suspense - allerdings muss man auch ein wenig lachen, weil klar ist, wie viele autobiographische Anteile das Projekt hat. Im Prinzip wird man in "Szenario" angeleitet, Florence Gaub zu spielen, die in ihrem College in Rom im sogenannten "Allied Command Transformation"-Team arbeitet, das sich mit möglichen Kriegsszenarien beschäftigt. Man begibt sich also nicht einfach in einen Science-Fiction-Kontext, der als fiktionaler Raum unbegrenzt wäre, um auf diesem Umweg Rückschlüsse für die Analyse oder Deutung der Gegenwart zu artikulieren. Wäre das der Fall, hätten wir es mit Literatur zu tun. Vielmehr befindet man sich in einem von wissenschaftlichen Erkenntnissen begrenzten Raum, in dem auch andere Akteure handeln, die man nicht kontrollieren kann. Und die dem Szenario des Buches zugrunde liegenden Erkenntnisse sind diejenigen, die die Autorin recherchiert, bis 2033 als "gesicherte" Trends identifiziert und mit Quellen versehen hat.
Bescheidenheit gehört dabei übrigens nicht unbedingt zu den Vorgaben von "Szenario": "Sie sind weder Wonder Woman noch Superman, sondern ein normaler Mensch, aber als solcher sind Sie doch mit einer Superkraft auf die Welt gekommen: der, nach vorne zu denken, sich die Zukunft vorzustellen - um sie zu gestalten." Diese "Superkraft" spricht die Autorin sich offenbar auch erst mal selbst zu. Schön, dass man sie sich hier ausleihen darf. So geht es also im Frühjahr 2030 los mit der Frage, in welcher Zukunft man am Ende des Buchs und des Spiels im Jahr 2033 "über die Ziellinie" laufen wird.
Die Ausgangssituation ist folgende: Auf dem Weg zur Arbeit sitzt man in der Brüsseler U-Bahn und liest auf dem Handy die Nachrichten. Erwähnt werden darin die russischen Präsidentschaftswahlen vom Sonntag: Wladimir Putin wurde im Alter von 77 Jahren wiedergewählt. Was die Nachrichten allerdings dominiert, ist die chinesische Mondlandung, die unmittelbar bevorsteht. Es besteht Sorge, dass "Peking" unnötige Risiken eingeht, um vor der amerikanischen Mission, die für August 2030 geplant ist, den Trabanten zu erreichen. In Amerika ist seit einem Jahr Andy Beshear im Amt, ein Demokrat aus Kentucky. Es wird auch von "kleineren Scharmützeln an der Waffenstillstandslinie in der Ukraine berichtet". Dann klingelt das Telefon, auf das man gerade starrt, und eine norwegische Nummer ruft an.
Florence Gaub entfaltet den Plot ihres Szenarios abschnittsweise mit erzählerischen, durchaus auch mit literarischen Mitteln. Es ist ihr Trick, um ihre Leser hineinzuziehen in ihr Setting und in eine andere Zeit. Sie benutzt nicht den Konjunktiv, also keine Möglichkeitsform, sondern erzählt, was 2030 ist. Dabei verwendet sie auch wörtliche Rede und entwirft Dialoge: "Hast du schon gehört?", sagt am Telefon der nette Kollege, der im NATO Joint Warfare Centre in Stavanger stationiert ist. "Ein Forschungsschiff der Norweger hatte eine Havarie, die RV Framtid. Östlich von Spitzbergen, Richtung Franz-Josef-Land, sehr nah an russischen Hoheitsgewässern." - "Ist das Schiff untergegangen? Was ist mit der Besatzung?", hört beziehungsweise liest man sich selbst fragen. Denn das gehört zum Szenario dazu, die Erzählung würde sonst natürlich nicht funktionieren: Man ist zwar aufgefordert, eigenständige Entscheidungen zu treffen; was man sagt, wo man hingeht, welche Quellen man sichtet, ist aber buchstäblich vorgeschrieben.
Der Kollege erzählt noch, dass das Schiff kurz vor dem Kentern stehe, und verspricht, auf einem sicheren Netzwerk das Bildmaterial zu schicken, das ihnen vorliege. Von Drohnenangriff bis zur Cybermanipulation der Bordcomputer seien verschiedene Theorien im Spiel. Und es wird festgestellt, dass der Zwischenfall nicht im luftleeren Raum passiere. Im Gegenteil. Seit dem "kalten Kriegsende in der Ukraine" sei die Spannung groß, die Russen rüsteten weiter auf, es gebe seit Jahren Warnungen, der nächste Krieg sei nur eine Frage der Zeit. Dabei sei der Krieg in der Ukraine nicht "zu Ende", wiederholte Anläufe zu einem umfassenden Friedensvertrag seien gescheitert, beide Seiten hätten sich mit einem "langen Waffenstillstand" eingerichtet.
Während die Mehrheit der Kommentatoren sich seither darauf festgelegt hat, dass Russland als Nächstes das Baltikum angreifen könnte, ist man in "Szenario", so steht es im Plot, selbst der Überzeugung, dass es - wenn überhaupt - "woanders krachen" werde. "Und auch nicht so, wie es gemeinhin angenommen wird, nicht mit Panzern, sondern mit Schiffen, U-Booten und vielleicht auch Satelliten." Ist also die Havarie vor Spitzbergen der Anfang eines Konflikts mit Russland? Oder tatsächlich nur ein Unfall?
An dieser Stelle bricht die Erzählung im Buch erst einmal ab, und es folgen "Ihre nächsten Optionen", von denen man sich eine auswählen und dann an anderer Stelle mit der Lektüre fortfahren kann. Erste Option: ",Direkter Draht' - Gespräch mit Moskau". Man reist zum "Moscow Security Forum", um Kontakt aufzunehmen, was mit dem Risiko verbunden ist, dass der Besuch registriert, instrumentalisiert und als "Anbiederung" verstanden wird. Zweite Option: "Dorthin, wo es passiert ist - Reise nach Tromsø", mit dem Ziel, Gespräch mit der Küstenwache, lokalen Forschungseinrichtungen und den Behörden aufzunehmen. Auch hier gibt es ein Risiko: Man könnte als ungebetener Gast erscheinen. Dritte Option: "Peking Connection - Der fehlende Akteur". China ist auf Spitzbergen mit einer Forschungseinrichtung präsent und "der große Unbekannte in der Gleichung". Ein diskreter Kontakt zu chinesischen Wissenschaftlern könnte neue Perspektiven eröffnen. Was wiederum das Risiko eines Dreierkonflikts birgt und die Lage noch komplizierter machen könnte.
Wählt man Option 1, landet man in Moskau im Café Pushkin. Wählt man Option 2, blickt man durch die moderne Glasfassade des Hotel Clarion The Edge auf den Hafen von Tromsø. In Option 3 fährt man mit dem Taxi durch Peking zum "China Institute of International Studies". So bewegt man sich von Station zu Station durch das Buch, erwägt an manchen Gabelungen, sich doch anders zu entscheiden, und liest erst mal nach, was die Optionen bereithalten. Manchmal wird man aufgefordert, nur ein paar Seiten weiter zu springen, dann wieder sind es gleich 50. Schnell ist man im "What if"-Modus, der durch die lebhafte Erzählung durchaus einen Sog mit Krimi-Effekt entwickelt, und spielt die zentrale Frage immer neu durch: "Was wäre, wenn ...?"
Wichtig für Florence Gaubs Annahmen ist, dass sie als Zukunftsforscherin in sogenannten "Fringe Futures" denkt, also in "Randzukünften". "Im Krieg", so hat sie es kürzlich in einem Interview in der "Welt" gesagt, "tritt das wahrscheinlichste Szenario selten ein." Dass Russland gerade die Kapazitäten aufbaut, die NATO anzugreifen, heißt für sie nur, dass Russland die NATO theoretisch angreifen könnte. Da im Baltikum NATO-Truppen stationiert seien, könnte es aber auch sein, dass Russland auf andere Gebiete ausweiche. "Meine Sorge ist, dass wir in einen Konflikt hineinstolpern. Weil wir nicht alle toten Winkel zumachen. Und dass die Stimmung so aufgeheizt ist, dass es zu Missverständnissen kommt", so Gaub.
"Die Zukunft ist, was wir daraus machen", zitiert sie in "Szenario" Doc Brown aus der Serie "Zurück in die Zukunft". Als Zukunftsforscherin arbeitet sie daran, als Autorin will sie uns in diese Arbeit hineinziehen. Dass es durch Recherche entworfene Erzählungen sind, die sich auch in ihrem beruflichen Umfeld als Methode etabliert haben, um Szenarien durchzuspielen und Strategien zu entwickeln, ist dabei vielleicht die überraschendste Nachricht. Und zeigt uns, dass Florence Gaubs Buch tatsächlich sehr viel mehr ist als nur ein Spiel.
Florence Gaub: "Szenario - Die Zukunft steht auf dem Spiel", dtv, 512 Seiten
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