Liebe! Ein Aufruf von Daniel Schreiber ist ein unglaublich wichtiges Buch. Vielleicht schreckt der Inhalt manche erstmal ab - ist Nächstenliebe nicht nur etwas für religiöse Menschen?
Doch Daniel Schreiber zeigt auf sehr persönliche und tiefgründige Art auf, um was es hier geht: Um mehr Menschlichkeit, Respekt und Akzeptanz und gegen Hass und Menschenverachtung.
Viele von uns können wohl mit dem Autor mitfühlen: Am besten ließ sich diese Einsicht als eine umfassende Desillusionierung beschreiben. Ich fühlte mich in der Gesellschaft, in der ich lebte, immer weniger zuhause. Die Nachrichtenlage ließ mich jeden Tag von Neuem bestürzt zurück, fassungslos und traurig. Mir war die Fähigkeit abhandengekommen, die Welt zu lieben. Und ich wusste nicht, wie ich den damit einhergehenden Gefühlen von Ohnmacht und Lähmung begegnen konnte.
Die akuelle politische Lage weltweit, die Rhetorik des Hasses, all das prägt unser aller Leben. Doch wie kann es gelingen, dem Hass und dem aktuellen politischen Diskurs etwas entgegenzusetzen?
Die Philosophin Martha Nussbaum etwa geht davon aus, dass wir Liebe nicht nur in unserem persönlichen, sondern auch in unserem politischen Leben zum Überleben brauchen. Damit meint sie natürlich nicht, dass wir für andere Menschen und erst recht nicht für Menschen, mit denen wir uns politisch nicht einigen können, so etwas wie romantische Liebe empfinden sollten. Wir müssten noch nicht einmal Sympathie für sie empfinden, wie wir es für unsere Freundinnen und Freunde tun, erklärt sie. Die Form der Liebe, die sie meint, besteht »lediglich darin, die andere Person als vollkommen menschlich anzusehen, als ein Wesen, das auf irgendeine Weise zum Guten und zur Veränderung fähig ist«. Was nach wenig klingt, ist bei genauerer Betrachtung genau das, was unserem politischen Miteinander seit einigen Jahren abgeht, das, was ich und viele andere Menschen in den politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit so schmerzlich vermissen. Ohne diese Form der Liebe kann es keine Form demokratischer Zusammenarbeit geben, keinen Kompromiss, kein sinnvolles Zusammenleben, keine Hoffnung.
Ohne diese Form der Liebe kann es nur Zynismus geben. Kann es nur Auseinandersetzungen von Menschen geben, die herrschen, die siegen wollen. Ohne sie ist eine dissoziative Distanznahme von der Welt alles, was uns bleibt.
Daniel Schreibers Art zu Schreiben, seine Wortwahl, hat mir sehr gut gefallen.
Anhand politischer, philosophischer und sozialhistorischer Beispiele zeigt er auf, dass die Liebe der Schlüssel zur Veränderung sein kann.
Welche Haltung bleibt uns, um politisch aktiv zu werden? Wie kann es uns gelingen, wieder wirksam gesellschaftlich zu handeln? Immer wenn ich darüber nachdenke, komme ich auf die Liebe zurück, auf die Liebe im Allgemeinen und die Weltliebe im Besonderen. Ich muss an Hannah Arendt denken, die ihre politische Kraft reflektierte, an die Philosophie der Antike und die Theologie des Mittelalters, die ohne Liebeskonzeptionen nicht denkbar gewesen wären, an Philosophinnen und Philosophen wie Martin Buber, Emmanuel Lévinas oder Paul Ricœur, an Albert Schweitzer, Erich Fromm, bell hooks oder Martha Nussbaum, an die politischen Reflexionen von Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela. Schon immer haben Menschen über Liebe nachgedacht, in all ihren Formen. Schon immer beriefen sich soziale, religiöse und politische Bewegungen auf ihre Kraft, oft mit überwältigendem Erfolg. Doch all die Einsichten, zu denen man kam, all die hart errungenen Wahrheiten, scheinen heute oft ungelesen als trivial oder unbedeutend abgetan zu werden.
Liebe! Ein Aufruf ist ein feines, kluges Buch, das die Hoffnung schürt, dass es anders gehen könnte.
"Letztlich stellt es keine Option dar, die Welt nicht zu lieben, auch wenn diese es einem durch ihre Ungerechtigkeit, durch Krieg, Hass und Gewalt schwer macht."
Vielen Dank an den Hanser Verlag und an NetGalley für das Rezensionsexemplar!