Die 73-jährige Sybil van Antwerp gibt eine ganz hervorragende Hauptfigur ab, die sich nicht scheut, ihre Meinung zu sagen. Sie hat einen nicht ganz umgänglichen Charakter, ist streitlustig und eigenbrötlerisch, vor allem aber klug, nachdenklich und sie schreibt so galant formuliert, dass ich selbst gern Briefe von ihr erhalten würde. Deshalb habe ich den Briefroman sehr genossen, zumal ich eine Faible für diese Literaturform habe.
Schreiben fiel mir leichter als Sprechen. Das ist bis heute so geblieben.
Wie ein Puzzle setzt die Autorin Virginia Evans das Bild von Sybil und ihrem Leben zusammen. Dabei weckt sie nicht ganz unabsichtlich die eigene Lust zum Briefeschreiben, da Sybil schwärmerisch das geschriebene Wort huldigt und viele gute Gründe aufzählt, die ich selbst an der ursprünglichsten Formen des gesitteten Austauschs schätze.
Ich bin vom Hörbuch (ganz großartig gesprochen von Beate Himmelstoß) auf das Buch umgestiegen, da ich besser damit zurecht kam, die Briefe vorzublättern, um zu sehen, wer sie verfasst hat, wenn sie nicht von Sybil stammten. Über drei Jahre Korrespondenz - und es ist erstaunlich, wie viel man den Briefen und Mails entnehmen kann und wie gut diese Erzählweise funktioniert, die ganz ohne Szenen, Dialoge oder Begegnungen auskommt. An einigen Stellen hat mich Virginia Evans auch neugierig gemacht und eine angenehme Spannung erzeugt. Wer ist der anonyme Schreiber mit dem Kürzel DM, der Sybil zunehmend ängstigt? Dann ist da noch die drohende Blindheit und der damit verbundene Verlust ihrer bevorzugten Kontaktpflege. Dieser Satz lässt ahnen, wie sie damit umgeht: Ich werde wohl eingehen wie ein Fisch, den man aus dem Teich gezogen und auf dem Steg in der prallen Sonne vergessen hat. Dann hat mich noch neugierig gemacht, wem Sybil die besonders tiefgründigen und ehrlichen Zeilen schreibt, die sie dann nicht abschickt. Es erweckt den Eindruck eines Tagebuchs und es gibt es auch Geheimnisse in ihrem Leben. Ganz besonders mochte ich allerdings die vertrauensvollen Briefe an ihren Adoptivbruder, den sie sehr schätzt und dessen Antworten von Humor gezeichnet sind. Auch ihre Vorliebe, Autoren zu schreiben, fand ich vorzüglich, weil es ihre Leseleidenschaft aufnimmt und ihre klugen Leseeindrücke eine Freude sind. Die Korrespondenzen sind vielfältig und zeigen viele Facetten. Mir wurde jedenfalls nicht langweilig. Die Avancen des Nachbarn haben mich schmunzeln lassen und all das zeigt vermutlich schon, wie sehr ich «Die Briefeschreiberin» geliebt habe. Ein Jahreshighlight für mich, dem ich eine große Leserschaft wünsche, die ganz besondere Bücher mit Herz und Humor entdecken möchte.