Elizabeth OConnors Debütroman "Die Tage des Wals" entführt in die karge und raue Welt einer (fiktiven) abgelegenen walisischen Insel Ende der 1930er Jahre. Der Roman besticht nicht nur durch seine präzise Schilderung von Natur und sozialer Realität, sondern auch durch die subtile Art, wie die Autorin tiefgründige Themen wie soziale Ungleichheit, Machtverhältnisse und Selbstfindung behandelt.
Im Zentrum der Geschichte steht die 18-jährige Halbwaise Manod, deren Leben eintönig und von Entbehrungen geprägt ist. Sie kümmert sich um ihre jüngere Schwester und führt den Haushalt, während ihr Vater als Fischer mehr schlecht als recht für das Überleben der kleinen Familie sorgt. Manods einziger Lichtblick ist ihr Traum, eines Tages das Inselleben hinter sich zu lassen und Lehrerin auf dem Festland zu werden.
Die Ereignisse nehmen eine unerwartete Wendung, als ein Wal auf der Insel strandet und zwei Forscher aus Oxford, Edward und Joan, eintreffen. Sie engagieren Manod als Übersetzerin und Assistentin für ihre wissenschaftlichen Studien. Was zunächst wie ein Abenteuer erscheint, wird für Manod zur Falle. In einer leidenschaftlichen Affäre mit Edward glaubt sie, eine neue Perspektive für ihr Leben zu finden. Doch je mehr Zeit sie mit den Forschern verbringt, desto deutlicher wird, dass sie von ihnen manipuliert wird.
Die Wissenschaftler, die eine Publikation über das Inselleben planen, interessieren sich nicht für die ungeschönte Wahrheit. Stattdessen stellen sie das Leben der Insulaner romantisiert dar und bedienen sich an Manods Wissen und Arbeit, ohne ihre Leistungen anzuerkennen. Die junge Frau realisiert schließlich, dass sie für die Zwecke der Forscher lediglich ausgebeutet wird.
OConnor gelingt es, die soziale Kluft zwischen den armen Insulanern und den wohlhabenden Engländern darzustellen. Die Forscher Edward und Joan fühlen sich den Inselbewohnern intellektuell überlegen. Manods hohe Bildung überrascht sie, während sie zugleich herablassend darauf hinweisen, dass die meisten anderen Insulaner nur Walisisch sprechen. Diese subtilen Nuancen zeigen, wie tief verwurzelt die sozialen und kulturellen Unterschiede sind. Besonders beeindruckend ist die anschauliche und atmosphärische Beschreibung der Inselwelt. OConnor schildert die peitschenden Wellen, den eisigen Wind und den allgegenwärtigen Geruch nach Fisch und Meer so lebendig, dass man sich beim Lesen fühlt, als sei man selbst auf der Insel gestrandet.
Manods Entwicklung steht im Mittelpunkt der Geschichte. Ihre anfängliche Bewunderung für das Forscherpaar weicht einer bitteren Erkenntnis über deren wahre Absichten. OConnor zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Machtmissbrauch und soziale Ungleichheit das Leben eines Menschen bestimmen können.
Dieses schmale Büchlein behandelt große Themen wie soziale Ungerechtigkeit, Macht und persönliche Freiheit mit einer vielversprechenden Erzählkunst. Elizabeth OConnor hat ein Debüt vorgelegt, das gleichzeitig bewegend und aufwühlend ist. Manods Schicksal hat mich berührt und nachdenklich gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass Elizabeth OConnor diese vielversprechende literarische Linie in zukünftigen Werken fortsetzt.