Ich kann mich nicht erinnern, jemals so spannend, erhellend und überzeugend über geschichtliche Vorgänge gelesen zu haben.
Es geschieht ausgesprochen selten, dass mich ein Buch überrascht. Viele unterhalten mich, einige lehren mich etwas, nicht wenige hätte ich nicht zu lesen gebraucht. Die Tagesordnung gehört zu einer ganz anderen Kategorie, dieses Buch lässt mich die Welt neu sehen.Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, erzählt in seinen Büchern grosse Momente der Geschichte neu und hat damit so recht eigentlich ein neues Genre begründet. In Die Tagesordnung berichtet er vom 20. Februar 1933, als sich auf Einladung des Reichsministers Hermann Göring 24 hochrangige Vertreter der Industrie mit Adolf Hitler treffen. Die Nazis brauchen Geld und die Industrie liefert. "Im Budget grosser Unternehmen ist die Korruption ein unumgänglicher Posten mit unterschiedlichen Namen: Lobbying, Gratifikation, Parteienfinanzierung."Journalismus und Geschichtsschreibung erzählen üblicherweise Geschichten von sogenannt wichtigen Akteuren, geben diesen eine Bedeutung, die sie selten haben und betreiben dabei oftmals Heldenverehrung. Éric Vuillard tut etwas ganz anderes - er zeigt auf, dass die 24 hochrangigen Industrievertreter nicht als Individuen von Bedeutung sind (denn diese sind, wie wir alle, sterblich), sondern als Dinge. "Sie sind unsere Autos, unsere Waschmaschinen, unsere Reinigungsmittel, unsere Radiowecker, unsere Hausversicherung und die Batterie in unserer Uhr." Sie heissen BASF, Bayer, Agfa, Opel, I.G. Farben, Siemens, Allianz, Telefunken. Und sie sind juristische Personen. "Ein Unternehmen ist eine Person, der alles Blut zu Kopf steigt. Eine sogenannte juristische Person. Ihr Leben währt deutlich länger als unseres."Nachdem die Nazis den Industrie- und Bankenklerus bekehrt und die Opponenten zum Schweigen gebracht hatten, galt es die ausländischen Mächte zu besänftigen. Wie das Appeasement vonstatten ging, zeigt Éric Vuillard am Treffen von Göring und Halifax auf, beide auf ihre jeweils eigene Art verblendet und gestört. Und es sind nicht zuletzt diese Persönlichkeitsschilderungen, die diesen Text so überzeugend machen, denn da versteht einer, wie ungesund und egomanisch die Seelen von Machthungrigen funktionieren.So sehr Die Tagesordnung ein geschichtliches Werk ist, ich fühlte mich ständig auch an die heutige Zeit erinnert. Ein Haufen aus Schurken und Verbrechern, sei die Nazi-Partei gewesen - und die sehe ich auch heute in der Politik am Werk. Aussenminister Ribbentrop habe den Führer stets "zu den gewagtesten Aktionen" ermutigt, "indem er seinen grössenwahnsinnigen und brutalen Neigungen schmeichelte." Ganz automatisch springen meine Gedanken zu Diktatoren generell, die es deshalb gibt, weil der Mensch Gehorsam zu den Tugenden zählt.Indem sich Éric Vuillard auf eine kurze Zeitspanne im Februar und März 1933 konzentriert, genau hinschaut und die Komplexität des Geschehens anhand von Details aufzeigt, gelingt ihm ein Buch, das weit über die geschilderten Ereignisse hinausreicht und Allgemeingültiges erfahrbar macht. "Das Hirn ist ein sonderbares Organ. Die Augen verraten keine Gedanken, die feinste Mimik ist für andere unlesbar; so als wäre der ganze Körper ein Gedicht, von dem wir brennen, von dem unsere Nachbarn jedoch kein Wort verstehen."Besonders beeindruckend an diesem dünnen Band sind die quasi ewigen Wahrheiten, die die von Menschen gemachte Wirklichkeit durchziehen. Und vor allem diese: "Die Welt gehorcht dem Bluff. Selbst die seriöseste, steifste Welt, selbst die alte Ordnung, die sich niemals dem Anspruch der Gerechtigkeit beugt oder vor dem aufständischen Volk einknickt: Sie tut es vor dem Bluff."Ich kann mich nicht erinnern, jemals so spannend, erhellend und überzeugend über geschichtliche Vorgänge gelesen zu haben. Die Tagesordnung ist ein wahres Wunderwerk!