Mit "Unlearn Patriarchy" legt der Ullstein Verlag zwei bemerkenswerte Essaybände vor, die den Nerv der Zeit treffen. Band 1 erschien 2022, Band 2 folgte 2024 - beide jeweils als 352 Seiten starke Sammlung von Einzelessays. Die Herausgeberinnen Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Silvie Horch (Band 1) sowie Emilia Roig, Alexandra Zykunov und erneut Silvie Horch (Band 2) haben jeweils eine Vielzahl prominenter, engagierter und intersektional denkender AutorInnen versammelt. Insgesamt vereinen die beiden Bände Beiträge von über 30 Stimmen - darunter Kübra Gümü¿ay, Kristina Lunz, Teresa Bücker, Emilia Roig, Ise Bosch, Linus Giese (Band 1) sowie Ireti Amojo, Melina Bor¿ak, Nicole Seifert, Rebecca Maskos, Mandy Mangler und viele weitere (Band 2). Die Essays durchdringen zentrale gesellschaftliche Themen wie Gender, Macht, Kapitalismus, Sprache, Sexualität, Rassismus, Klasse, Gesundheit, Recht oder Literatur - stets mit dem Ziel, patriarchale Muster zu erkennen, zu hinterfragen und zu überwinden. Da beide Bände ähnlich aufgebaut sind und eine untrennbare Einheit bilden, fasse ich meine Eindrücke zu den beiden Hörbüchern in einer Sammelrezension zusammen.Die Eindrücke"Aber wir sind doch schon gleichberechtigt - was wollt ihr denn noch?" Sätze wie dieser zeigen gemeinsam mit den Statistiken zu Femiziden, Lohnungleichheit und sexualisierter Gewalt, der fehlenden Repräsentation und nicht zuletzt der alltäglichen, oft unsichtbare Abwertung des Weiblichen, wie tief patriarchale Strukturen in unserer Gesellschaft verwurzelt sind und vor allem: dass wir noch noch lange nicht am Ziel sind. Und wie könnte wir auch, wenn wir als Gesellschaft Sexismus immer noch unbewusst in Form von internalisierter Misogynie, in unserer Sprache, Erwartungen, Rollen- und Selbstbildern mitttragen? Die Autorinnen und Herausgeberinnen erklären bereits im Vorwort: Wir alle sind in patriarchalen Strukturen sozialisiert worden, die uns so vertraut sind, dass wir sie kaum mehr bemerken. Genau hier setzt die Essay-Sammlung "Unlearn Patriarchy" an. Aufgeteilt in einzelne Beiträge fordert sie uns auf, vertraute Denkmuster zu erkennen, zu hinterfragen und bewusst zu verlernen - nicht, um von einem Tag auf den anderen "frei" zu sein, sondern um überhaupt erst klar sehen zu können, wie tief diese Muster reichen und wie sehr sie unser Denken, Fühlen und Handeln prägen. Denn erst wenn wir beginnen, unsere erlernten Wahrheiten zu dekonstruieren, wird der Blick frei für das, was möglich ist - jenseits der scheinbaren Alternativlosigkeit patriarchaler Normalität."Wirkliche Neutralität kann es in einem diskriminierenden System nicht geben, vielmehr werden die Ungerechtigkeiten dieses Systems immer mit aufrechterhalten, indem sie im Namen vermeintlicher Neutralität ausgeblendet werden."Diesem hehren Ziel nähert sich Band 1 über insgesamt 15 Essays zu den Themen Sprache, Gender, Liebe und Sex, Familie, Rassismus, Identität, Bildung, Kapitalismus, Politik und Macht, Geld und Technologie. Band 2 führt die Analyse in 13 weiteren Beiträgen fort, die sich unter anderem auf Recht, Krieg, Klasse, Gesundheit, Religion und Literatur beziehen. Auch wenn die Beiträge mit unterschiedlicher inhaltlicher Tiefe und wissenschaftlichem Anspruch geschrieben sind, zeigen sie doch allesamt sehr gelungen auf, wie tiefgreifend patriarchale Strukturen wirken, in scheinbar neutralen Bereichen wie Forschung, Sprache oder Recht ebenso wie in Alltag und Beziehung. Dabei waren manche Themen und Erkenntnisse bereits bekannt, manches wurde aufgefrischt und einiges war auch neu. Das zeigt, dass diese Art von Bücher wertvoll sind, aber wahrscheinlich selten die richtige Zielgruppe erreicht: Männer, die sich mit dem Thema noch nicht beschäftigt haben. Umso wichtiger ist es, sie weiterzuempfehlen. Denn mit dem Lesen dieser Bücher ist es natürlich nicht getan. Aber "Unlearn Patriarchy" legt eine kraftvolle Grundlage, um Feminismus strukturell, institutionell und intersektional neu zu denken - und dabei bei sich selbst anzufangen."Die überwältigende Mehrheit der Menschen lebt in heterosexuellen Ehen oder Partnerschaften. Dies mag sich für viele Menschen natürlich anfühlen, aber die Heterosexualität ist größtenteils erlernt und wird gesellschaftlich gefördert und begünstigt. Warum? Weil sie wichtige Funktionen in unserer Gesellschaft erfüllt."Besonders gelungen finde ich dabei die Vielfalt der Stimmen, die hier zu Wort kommen darf. Beide Bände beeindrucken durch konsequentes intersektionales Denken. In Ablehnung der Falle des "weißen Feminismus" werden Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ableismus oder Transfeindlichkeit hier gezielt nicht getrennt betrachtet, sondern als sich überschneidende Systeme verstanden, die gemeinsam analysiert und bekämpft werden müssen. Dementsprechend sind die VerfasserInnen der Beiträge als VertreterInnen verschiedener Schnittstellen ausgewählt. In Konsequenz waren mir manche der AutorInnen inhaltlich und biografisch näher, andere weiter entfernt - doch alle Beiträge sind eloquent, zugänglich, oft emotional, manchmal wütend, immer reflektiert geschrieben. Sie verknüpfen persönliche Erlebnisse mit theoretischen Überlegungen und machen so strukturelle Ungleichheiten unmittelbar nachvollziehbar. Es gibt keinen akademischen Jargon, sondern eine offene Einladung zum Mitdenken, Mitfühlen und Mitverändern. Besonders hervorzuheben sind auch das sorgfältig zusammengestellte Literaturverzeichnis und die Empfehlungen für weiterführende Lektüre sowie die gelungene Lesung des Hörbuchs durch Maya Alban-Zapata. "Es ist die Stimme des Patriarchats, die uns bestraft, wenn wir es wagen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, wenn wir aus den vorgeschriebenen Rollen und gesellschaftlichen Erwartungen auszubrechen versuchen."FazitUnlearn Patriarchy ist mehr als eine Essaysammlung - es ist ein Weckruf, die eigenen Denkmuster radikal zu hinterfragen und strukturelle Ungleichheit nicht nur zu erkennen, sondern aktiv zu verlernen. Ein kraftvoller, zugänglicher und notwendiger Beitrag zu einem intersektionalen Feminismus, der bei uns selbst beginnt.