Viel Heimatgefühl und berechtigte Gesellschaftskritik - aber dann wollte der Autor wohl zu viel
Von Norden rollt ein Donner: Ein Buch, das mir irgendwie schwer im Magen liegt. Ich habe die Leseprobe zur Zeit der Frankfurter Buchmesse 2024 gelesen und ich fand sie nicht schlecht. Aber das Buch hat sich nach einigen Kapiteln in eine Richtung entwickelt, die mir nicht recht gefallen will. Einerseits hat es mir großen Spaß gemacht, die detailreichen Beschreibungen der Heidegegend zu lesen, in der ich selbst groß geworden bin. Namen von Orten, von Geschäften, Sitten und Gebräuche und die Wortwahl der Erzählstimme haben viele Erinnerungen geweckt - nicht nur gute, aber Erinnerungen. Es werden viele Probleme mal mehr, mal weniger deutlich angesprochen - dazu später mehr -, die mich an meine Zeit in der Heimat zurückdenken lassen. Andererseits gibt es Elemente in der Erzählweise und auch in der Handlung selbst, aus denen ich irgendwie nicht schlau werde. Je weiter ich las, desto weniger verstand ich, was das Buch mir sagen möchte, und nach dem Epilog war ich einfach nur noch verwirrt. Vielleicht will das Buch zu viel?Es geht gut los, mit dem jungen Schäfer Jannes, der zunehmend das Gefühl bekommt, mit seiner Berufswahl eine falsche Entscheidung getroffen zu haben und festzustecken, obwohl ihm sein Alltag in der Natur und mit den Tieren eigentlich ganz gut gefällt. Der sich um seine alternden Eltern und deren Gesundheitsprobleme sorgt, während er seine in die Stadt gezogenen Freunde und das gemeinsame Besäufnis vermisst. Der in Politikverdrossenheit abzurutschen droht und als Vermittler zwischen seinem im Eigensinn festgefahrenen Großvater und seinem optimistischeren, aber etwas zu verbissenen und gesundheitlich angeschlagenen Vater dient, während er nur spät realisiert, wie sehr seine Mutter doch den Laden am laufen hält - sowohl den Schäferhof, als auch die Familie. Es geht um Landflucht der "jungen Leute", um Unsichtbarkeit der eigenen Probleme gegenüber der Politik und das starke Gefühl von Machtlosigkeit auch Krankheiten gegenüber, es geht um die Rückkehr des Wolfes und um Anzeichen von Radikalisierung und Extremen im Zusammenhang mit Tradition und Rückschrittlichkeit. Es geht um die Kriegsgeschichte der Region. So weit, so verständlich und gut. Aber dann gibt es zunehmend Elemente, die mir das Lesen phasenweise vermiest haben. Ich störe mich nicht an der Erwähnung von regionaler Geschichte im Zusammenhang mit den Schrecken des Nationalsozialismus, mit dem nahegelegenen Konzentrationslager Bergen-Belsen oder den Fragen nach Verantwortung und Schuld, die junge Menschen gern ihren Großeltern stellen würden, die aber gern ignoriert, totgeschwiegen oder unwahr beantwortet werden. Es ist wichtig, solche Themen aufzuarbeiten, und das nicht nur in Sachbüchern. Auch die Schwierigkeiten innerhalb der Familie, mit mentaler Gesundheit, mit dem Abnehmen der körperlichen Fähigkeiten und dem schleichenden Verschieben von Verantwortlichkeiten - das sind wichtige Dinge, über die man sprechen sollte. Was mich stört ist ein einzelnes Kernelement, das grundlegend beeinflusst, WIE Thielemann diese Themen erzählt. Der nächste Abschnitt beinhaltet kleinere Spoiler. Danach geht es wieder spoilerfrei weiter. Die Krankheit der Großmutter (ich lese ihre Symptome als Demenz, weil mich viele Beschreibungen an die Erkrankung eines eigenen Familienmitglieds erinnern, ich kann allerdings auch falsch liegen) wird als Wahnsinn beschrieben. Jannes, die Hauptfigur, beginnt selbst aus dem Nichts zu halluzinieren. Er scheint sich an etwas zu erinnern, woran er sich nicht erinnern dürfte; an etwas, das lange vor seiner Geburt passiert ist. Er stückelt sich die Vergangenheit aus diesen Halluzinationen zusammen, die übrigens nie erklärt werden. Am Ende gibt es eine große Offenbarung, mit der scheinbar alles abgeschlossen werden soll, aber für mich bleibt viel zu viel offen. Woher kommen Jannes Aussetzer? Hat er einmal etwas gehört oder gesehen, sodass er quasi sein Langzeitgedächtnis anzapft und Informationen ausgräbt, die einfach nur lange vergessen waren? Anders ergibt es für mich keinen Sinn, aber es wird nicht aufgelöst. Ab hier ist meine Rezension wieder spoilerfrei!Manche Szenen lesen sich wie ein Horrorfilm. Es hat mir nicht gefallen, diese Momente zu verfolgen, aber ich ziehe meinen Hut vor dem Autor und seinem Handwerk, denn die Übergänge sind fließend und mit den kurzen Sätzen, in denen der ganze Roman geschrieben ist, ist da durchgehend eine gewisse Spannung und Hektik trotz der Langsamkeit und Einfachheit des Großteils des Buches. Der Schnack, den die Figuren sprechen und denken und leben, war ziemlich nah an dem, was ich als Alltag und Lebensrealität daheim kenne. Der Ton ist also ziemlich gut getroffen und nicht so aufgetragen, wie es leider oft der Fall ist, wenn jemand über die Heide und ihre Menschen schreibt. Das Gesamtbild ist wirklich sehr stimmig und ich glaube, wenn der Autor dabei geblieben wäre, dann hätte mir Von Norden rollt ein Donner sehr viel besser gefallen: Einfache Menschen mit einem einfachen Leben, einem harten Beruf und vielen Hindernissen, die sie nicht selten der Raffgier von Politikern zu verdanken haben; Radikalisierung und Gewaltbereitschaft aus Machtlosigkeit und Nostalgie; Vergangenheitsbewältigung durch Schweigen, während man gleichzeitig auf andere Aspekte der Vergangenheit das Scheinwerferlicht richtet; Kontrollverlust durch Krankheit und Alter und die Machtlosigkeit, der eigenen Familie dabei zuschauen zu müssen; Selbstzweifel und Sorge vor dem Urteil anderer; die Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne; und schließlich die Rückkehr des Wolfes und der Probleme, die er für diese einfachen Menschen und ihre Viehbetriebe mit sich bringt - es gibt so vieles, was hier gut erzählt oder zumindest angekratzt wird. Warum nun dieses eine Element, das oben im Spoilerabsatz konkret benannt wird, unbedingt nötig war: Ich weiß es wirklich nicht. Jannes hätte die Informationen, die er auf die oben beschriebene Weise erhält, auch anderweitig finden können. Es gibt sogar eine Szene, in der er eine alte Zeitung in einem Fotoalbum findet. Warum diese Art von Entdeckung der Vergangenheit nicht ausbauen? Warum musste der Autor Jannes Suche nach Erklärungen auf diese Weise darstellen? Es ergibt für mich keinen Sinn. Ja, natürlich macht dieses Element die Handlung spannend. Wie ich schon sagte, ich hatte stellenweise wirklich Horror-Vibes. Aber war das wirklich nötig, um diese Geschichte zu erzählen? Ich habe ständig versucht herauszufinden, ob es nun rational erklärbar ist oder ob wir es mit etwas Übernatürlichem zu tun haben. Und die fehlende Auflösung, woher das alles kam, ärgert mich wirklich. Genauso, dass es wieder verschwindet, so schnell wie es aufgetaucht ist - wieder ohne Erklärung. Ihr merkt, diese eine Sache, die ich nicht ohne Spoiler benennen kann, hat mich enorm gestört. Sie ist auch eigentlich das einzige, was mich richtig ärgert. Ja, der knappe und sprunghafte Schreibstil, der trotzdem voller Details und genauer Beschreibungen steckt, ist nicht unbedingt das, was ich gern und viel lese. Aber es passt zur Geschichte und zur Region. Beispielsweise die Beschreibungen der Schützenvereinsscheiben an der Hausfassade der ehemaligen Schützenkönige; die Fahrtroute über Kreuzungen und Landstraßen durch kahle Kiefernwälder; die gegenseitige Abneigung zwischen Forstwirten und Jägern; ein selbst gemaltes Plakat für die gemeinschaftliche Erniedrigung eines unverheirateten Dreißigjährigen durch Fegen; das Gefühl von undichten Regenstiefeln im Matsch - ich habe so viele eigene Eindrücke allein in der Sprache und den Beschreibungen des Autors wiedererkannt, und diese Szenen habe ich sehr gern gelesen. Wenn es nur dabei geblieben wäre ...Es gefällt mir, dass in Von Norden rollt ein Donner die karge Heidelandschaft und ihre ebenso direkten Menschen nicht romantisiert werden. Der Verlag nennt das Buch bewusst einen Anti-Heimatroman (obwohl ich das gar nicht unbedingt so unterschreiben würde). Hermann Löns wird zusammen mit seinem Mythos kritisiert, Traditionen infrage gestellt, das immer gleiche Gerede und Prahlerei werden als solche bezeichnet und ja, auch die Beteiligung der Menschen aus der Heimat an Kriegsgräueln wird nicht schöngeredet, ganz im Gegenteil. Und doch fühlte es sich an wie nach Hause kommen, Von Norden rollt ein Donner zu lesen. FazitIch bin froh, dass ich über meinen Schatten gesprungen bin und nach langer Zeit mal wieder einen Roman gelesen habe, der im deutschen Feuilleton gut ankam (normalerweise ist das ein Signal dafür, dass es mir unmöglich gefallen kann). Ich hatte Freude daran, literarisch in meiner Heimat und Kindheit unterwegs zu sein. Es hat mir gefallen, wie viele verschiedene Probleme, die gern unter einer dicken Schicht Idylle verborgen werden, hier zutage traten. Aber dann wollte der Autor ein bisschen zu viel, und dieses "zu viel" hat für mich viele der positiven Bestandteile so negativ beeinflusst, dass ich insgesamt mit einem mulmigen Gefühl auf Von Norden rollt ein Donner zurückblicke. Vielleicht muss ich es noch einmal lesen um zu verstehen, was der Autor sagen möchte; jetzt, da ich weiß, wie die Geschichte ausgeht. Ein gutes Buch muss für mich jedoch auch nach einem einzigen Lese-Durchgang bestehen können, und das sehe ich hier leider nicht.