Besprechung vom 01.10.2024
Welche Tradition soll's denn sein?
Gefesselt an die Heide: Markus Thielemanns für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman "Von Norden rollt ein Donner" sucht das Unheimliche in der vermeintlichen Idylle.
Das erste Mal geschieht es am Rand einer ausgelassenen Party. Der neunzehnjährige Jannes hat bereits reichlich getrunken, als er nachts vom Garten aus in den Urwald schaut, der bis zur Grundstücksgrenze reicht. Durch den Sturm und den Regen, der über der Landschaft liegt, meint er etwas gesehen zu haben, ein Lebewesen, vielleicht einen der Wölfe, die seit Kurzem die Gegend in Angst versetzen, weil sie sich an den Schafen vergreifen. Jannes findet einen Pfad und gelangt rasch an eine regelmäßig geformte Lichtung. In der Mitte ragt ein Hügel aus alten Pflanzenteilen auf, in dem sich, wie Jannes glaubt, etwas bewegt. Schließlich entdeckt er ein Wesen, das ihn anstarrt, eine Frau mit nackten Füßen. Sie hebt grüßend die Hand, und in seinem Kopf formt sich ein Name: "E-ka".
Jannes, die Hauptfigur in Markus Thielemanns für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierten Roman "Von Norden rollt ein Donner", wird jener Frau noch häufiger begegnen. In bester Genretradition kann nur er sie sehen, sie sucht offenbar den Kontakt zu ihm, und als er endlich verstanden hat, dass er dabei in die Rolle seiner Großmutter Erika, genannt Eka, schlüpft, als diese noch ein Kind war, ahnt er auch, dass beide, die geisterhafte Frau und die Großmutter, ein Geheimnis verbindet, das in der Vergangenheit wurzelt, auch ist das genretypisch eine unbewältigte Schuld.
All das bildet einen wesentlichen Teil der Handlung. Allerdings ist die darin transportierte Gruselgeschichte kein Selbstzweck, sie illustriert nur etwas, das ohnehin da ist. Der Roman spielt in der Zeit von Herbst 2014 bis Frühjahr 2015 auf einem Hof, der in der Lüneburger Heide zwischen Urwald und Rüstungsfabrik Schafzucht betreibt. Er gehört dem alten Wilhelm Volker, Jahrgang 1931, wird geführt von seinem Schwiegersohn Friedrich, und der Enkel Jannes leistet einen großen Teil der anfallenden Arbeit: Er zieht fast täglich mit den Tieren auf die unterschiedlichen Weideflächen, bei jedem Wetter und immer in Sorge um das Wohlergehen der Herde angesichts der Berichte über herumstreunende Wölfe.
Heimattümelnd ist das mit keinem Wort, aber das modische Gegenteil, die Dekonstruktion der Heimat, ist dem Autor ganz fremd. Wie in den meisten heutigen Dorfromanen geht es auch hier um die Frage, ob die junge Generation das Erbe der alten antreten will und worum es sich bei diesem Erbe - materiell und immateriell - eigentlich handelt. Das betrifft die Vergangenheit einer Region, in der es im Nationalsozialismus eine Reihe von Arbeitslagern gegeben hat, und Einheimische, die davon profitiert haben. Von diesem Erbe ist nie die Rede. Und selbst als Jannes diejenigen, die damals dabei waren, zu den Ereignissen befragen will, deren Schemen ihm auf den Leib rücken und die er nicht mehr los wird, hält sich der eine bedeckt, während die andere in ihrer Umnachtung nur noch erahnen lässt, was sie damals erlebte.
Dass eine Tradition, ein Hineinwachsen in hingenommene und unverstandene Strukturen, auch eine Bürde sein kann, macht sich Jannes in seltenen Momenten des Romans durchaus klar: "Es gibt hier für ihn keine Entscheidung mehr. Solange er lebt, wird er diese Arbeit machen müssen, sonst können sie gleich aufgeben und den Hof verkaufen." Aber wäre das nicht doch eine Alternative? Für Jannes nicht: "Diese Landschaft hat ihm Stricke um die Glieder gelegt, mit neunzehn. Er ist der angebundene Bock, der hier am Rande seiner Weide steht und nicht weiterkann."
Zugleich aber hat die Erosion all dessen längst eingesetzt. Nicht nur laviert der Hof zwischen alter und neuer Zeit, zwischen dem traditionellen Wirtschaften und der Öffnung für Touristen, für die man durchaus den Hofladen auf Vordermann bringen könnte. Auch der Verlust an lebendiger Überlieferung wird an Jannes' dementer Großmutter und der Sorge um den Vater deutlich, denn Friedrich, dessen "Aussetzer" hinter seinem Rücken in der Familie benannt werden, will seine Gedächtnislücken und bisweilen seltsamen Reden nicht untersuchen lassen. Für Jannes jedenfalls, der wegen seiner Begegnungen mit jener geisterhaften Frau an der eigenen psychischen Gesundheit zweifelt, bietet die Familie, deren Sache er doch fortführen soll, immer weniger Halt.
Zumal auch die Wolfsplage dafür sorgt, dass sich die Angelegenheiten der verstreuten Gemeinde schleichend in eine dramatische Richtung bewegen. Ein neuer Nachbar, zugezogen aus dem deutschen Süden, knüpft an ganz andere lokale Traditionen an, die auf Abgrenzung und Abwehr alles Fremden beruhen und Hermann Löns als Eideshelfer dafür nutzen.
Der Autor erspart ihm nicht, sich damit gründlich in die Nesseln zu setzen, als er Jannes, den Enkel seines alteingesessenen Nachbarn, nicht erkennt und rüde von seinem Grundstück jagen will. Es sind solche Szenen, mit denen Thielemann eine Welt im Umbruch zeichnet, aller vermeintlichen traditionsgesättigten Ruhe zum Trotz. Zugleich geht es ihm noch um etwas anderes: Die Lüneburger Heide, die im Roman weit mehr ist als nur der Schauplatz, erscheint hier als Bündel von Projektionen: Da sind die betrunkenen Wanderer aus der Stadt, die von der Naturnähe in Jannes' Dasein faseln und, wie sie beteuern, am liebsten mit dem Neunzehnjährigen tauschen möchten. Da ist der Nachbar mit dem Querdenkergehabe, der in der Heide die Fortdauer finsterer Zeiten ersehnt, und da ist das Fernsehteam des NDR, das auf Stippvisite kommt, um einen Dokumentarfilm über die Schafzucht zu drehen, und schon bei der Ankunft genau weiß, was in dem Film vorkommen soll.
Jannes aber muss sich all dieser Bilder erwehren, die an ihn herangetragen werden, um eine eigene Haltung einnehmen zu können. Was das bedeutet, und dass er so schwer daran trägt, zeigt Thielemann gekonnt, ohne irgendetwas auszuerzählen. Wenn er die alten Sagen vom gefährlichen Roggenwolf oder der unheimlichen Roggenmuhme zitiert und seinen Protagonisten zugleich an Halloween die Masken der Spukgestalten anhängt, erhält die permanente und jeweils unterschiedlich beantwortete Frage der Protagonisten nach Gehen oder Bleiben eine unaufdringliche Zuspitzung. Und hält man sich vor Augen, was historisch auf den Moment folgt, in dem Thielemanns Roman kaum zufällig endet, der Sommer 2015 mit dem Anstieg der Migration, dann wäre man gespannt darauf, wie Merkels "Wir schaffen das" hier aufgenommen wird. TILMAN SPRECKELSEN
Markus Thielemann: "Von Norden rollt ein Donner". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2024. 287 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.