Dieser Satz war schon bei den alten Römern im Umlauf. Heute in neoliberalen Zeiten ist er aktueller denn je, teilt er doch die Menschen in zwei Klassen. Die, die es schaffen, sich in der Gesellschaft erfolgreich zu behaupten und die Anderen, die den Bodensatz einer Gesellschaft bilden.
Patricia Melo gelingt es meisterhaft, dass wir uns den Menschen des Großstadtdschungels Sao Paulos lesend nähern, sie kennenlernen: wer sie sind, woher sie kommen, warum sie auf der Straße leben, ihre Ängste und vor allem auch ihre Träume. Es sind Individuen wie du und ich. In klaren Schilderungen ohne Betroffenheitsduselei werden die einzelnen Charaktere ausgeleuchtet und lebendig:
Seno Chacoy, der Venezolaner
Douglas, der Totengräber, verheiratet mit Regiana, der eine gedankliche Pyramide entwirft:
Am Fuße die Menschen und die Primaten, die auch grausam sein und Kriege führen können. Mittig die Tiere, die nur töten, um zu überleben. Und an der Spitze die Pflanzen mit den Bäumen als höchstem Ausdruck des Guten.
Zélia Firmino, ihre Kinder João Henrique und Jessica
Chilves, Jessicas Partner und Vater ihrer neugeborenen Tochter
Glenda, die Transfrau,
Dido und sein Hund Afonsinho
ZJ, der Rapper
Farol Baixo, der Lügner
Iraquitan Soares, der Schriftsteller, der Funken sprühende Worte sammelt
Die wenigen der anderen Seite:
Rita, die Journalistin
Ciro Andrade Filho, der Verleger
Padre Augusto
Und als Beispiel für die Ausführenden der staatlichen Executive:
Marreco und Cleber, zwei Polizisten, die Einsatzberichte fälschen, Tatorte manipulieren und Hinrichtungen arrangieren.
Da wird ein Mikrokosmos im Makrokosmos sichtbar mit seinen vielfältigen Regeln und Repressionen: Die staatlichen Herbergen, ein Platz für Ansteckungen und Diebstähle, sind tagsüber geschlossen
Die christlichen Heime, auch dort verwanzte Betten, missionarische Gehirnwäsche.
Ganze Gemeinden, die sich mit Milizen, der Polizei und den Drogenkartellen zusammenschließen.
Psychosoziale Zentren, die mit Elektroschocks arbeiten.
Die morgendliche Überlebensroute: immer in Bewegung bleiben, sonst ist man eine Zielschreibe für die Militärpolizei, die braven Bürger und die Evangelikalen.
Der Zusammenhalt unter den Erniedrigiten, aber auch dort sind manche Schafe schwarz.
Alle sind miteinander verbunden. Niemand glänzt im Scheinwerferlicht der Autorin. Patricia Melo nutzt die Einzelschicksale als Gesamtschicksal, um die Politik und die Gleichgültigkeit der braven Bürger anzuprangern, die vergessen, dass der Absturz in die Namenlosigkeit und Unsichtbarkeit jeden treffen kann. Sie präsentiert uns staatliche Gewalt, durchsetzt von Korruption und Kriminalität und lässt wenig Hoffnung auf einen funktionierenden Rechtsstaat.
Ein beeindruckendes Porträt einer Gesellschaft und ihrer Menschen. Unbedingt lesenswert, um vielleicht im Hier und Jetzt die Augen offen zu halten für die Anderen-
Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. (Brecht