An diesem Tag, so die Wahrsagerin, wird sich das Leben von Mathilde ändern, ein Mann werde sie erlösen. Die alleinerziehende Witwe mit drei Kindern befindet sich seit Monaten in einer Abwärtsspirale. Schritt für Schritt wurde aus ihrem erfüllten Berufsleben ein Martyrium. Nur mühsam kann sie die täglichen Aufgaben außerhalb des Büros erfüllen, hat den Kontakt zu ihren Freunden nahezu komplett abgebrochen. Sie steht kurz vor einem Burnout oder schlimmerem. "In Paris wirft sich alle vier Stunden ein Mann oder eine Frau vor die Metro." (S. 57)Thibault, Notfallarzt in Paris, fühlt ähnlich. Die tägliche Fahrerei quer durch die überfüllte Metropole zu Notfällen, das Leiden der anderen, die eigene Leere, zermürben ihn.Wir begleiten die beiden an diesem 20. Mai durch Paris und schauen tief in ihr Inneres. Die Stadt zeigt sich von ihrer unschönen Seite, kein Glamour, keine Boulevards, kein Luxus. Die Geschichte hat mich sofort gepackt und ich habe sie in einem Rutsch zu Ende gelesen. Die Erzählzeit ist hier Präsens, nicht wie üblich Präteritum, und so wird eine Unmittelbarkeit erzeugt, die einen ganz starken Sog ausübt. Die Autorin schreib klar, häufig in kurzen Sätzen, so treibt sie den Tag und die Handlung voran, es bleibt durchweg spannend. Was wird an diesem Tag passieren?Ich habe bereits mehrere Bücher von De Vigan gelesen und sie haben mir alle sehr gut gefallen, dieser Roman ist keine Ausnahme. Wie die Autorin Gesellschaftskritik betreibt und das stückweise Demontieren einer Frau durch ihren Vorgesetzten darstellt, ist wirklich gelungen und hat mich so wütend gemacht . Auch finde ich es glaubhaft, dass Mathilde das Mobbing zunächst nicht als solches wahrnimmt und dann, in der Annahme, dass sich alles schon wieder einrenken werde, ignoriert, bis es zu spät ist. Eine große Leseempfehlung.