Der Distelfink ist ein Roman aus 2013, den ich seinerzeit schon einmal (leihweise) gelesen, aber völlig vergessen habe. Ich hatte ihn hier ursprünglich mit fünf Sternen bewertet -aus der Erinnerung-, habe mich nun aber an ein neues Lesen gewagt, nachdem das gekaufte Buch nun auch schon über zehn Jahre auf meinem SuB ausharren musste.Es geht um die Geschichte von Theo Decker, der als 13-Jähriger bei einem Terroranschlag in einem New Yorker Kunstmuseum seine (alleinerziehende) Mutter verliert und im Chaos dort ein Gemälde (den Distelfink) mitgehen lässt, das ihn fortan begleitet und sein Leben beeinflusst. Er wandert sozusagen durch mehrere Familien, sucht einen Platz im Leben und gerät dabei in eine Welt aus Drogen, Betrug und Gesetzlosigkeit, verfällt dazu dem **Hillbilly-Heroin** (Oxycodon) und anderen Substanzen, während er sich durch verschiedene amerikanische Milieus bewegt: von der Antiquitätenwerkstatt seines Vormunds Hobie bis zur kriminellen Kunstszene in Amsterdam. Der Roman schildert dabei eindringlich und in tw. großer Ausführlichkeit Theos Werdegang, seine Trauer, seinen Abstieg, seine Abhängigkeit und die moralischen Grauzonen, in denen er sich bewegt - zwischen Schuld, Schönheit und der am Ende generalisierten Frage, ob man seinem Schicksal entkommen kann. Donna Tartt beweist dabei insgesamt durchaus ihre Fähigkeit, atmosphärische und detailreiche Erzählwelten mit mitunter beeindruckenden Bildern zu schaffen, trotz typischer einfacher amerikanischer Sprache. *Der Distelfink* führt durch verschiedene Milieus, von der Upper Class New Yorks bis zur kriminellen Unterwelt, und bietet eine kopfkinohafte, stilistisch durchaus reizvolle Darstellung von Trauer und Trauma, von Kunst und Identität.Leider aber bewirkte ihre übermäßige Detailverliebtheit auch, dass die Geschichte unnötig in die Länge gezogen und mein Lesefluss immer wieder gebremst wurde, gerade an Stellen, wo es eigentlich spannend zu werden begann.Die verschiedenen Milieus und Nebenfiguren, die den Roman eigentlich zu einem "Gesellschaftsroman" machen, blieben leider immer wieder klischeehaft, wodurch die gesellschaftliche Analyse an Tiefe verliert. Statt einer differenzierten Betrachtung moderner Strukturen erhält man über weite Strecken eine "Mafia-Film-artige" Darstellung, die mehr mit überzeichneten Kriminalromanen gemein hat als mit echter Milieustudie. Besonders einige stereotypen Nebenfiguren tragen dazu bei, dass der Roman nicht die gesellschaftliche Bandbreite erreicht, die er suggeriert. Was das Herkunftsmilieu Theos, die Drogen, das Kunstmilieu und auch die Vorgehensweise bei Katastrophen oder gegenüber Kindern/dem Jugendschutz in den USA angeht, schien mir nicht alles ganz glaubhaft, auch wenn dort Dinge natürlich anders laufen als bei uns. Insgesamt hatte ich ein Problem damit, wie sich hier in einer einzigen Familie alle denkbaren Probleme häufen, oder wie die Mengen konsumierenbarer Drogen und ihre Folgen hier dargestellt wurden, alles etwas "too much" - die offensichtlich erwünschte Aussage wäre auch schon mit "viel kleineren Brötchen gebacken" gewesen.Hinzu kommt ein von mir als stark pessimistisch empfundener Grundton, der kaum Hoffnung oder Entwicklung zulässt. Der Roman scheint die Idee zu vermitteln, dass Menschen aus ihren Mustern nicht ausbrechen können - eine Sichtweise, die wenig neue Erkenntnis bringt und eher frustriert als bereichert. Obwohl sich die Geschichte als Gesellschaftsroman versteht, bleibt die soziale und psychologische Tiefenanalyse oberflächlich, trotz mehrerer Seiten Philosophieren am Schluss, und dadurch letztlich unbefriedigend. Die Frage, ob sich Theo tatsächlich verändert oder lediglich im Kreislauf seiner destruktiven Muster bleibt, wird nicht klar beantwortet - was besonders problematisch ist, wenn der Roman tatsächlich eine größere Aussage über das Leben treffen möchte. Alles in allem ist *Der Distelfink* zweifellos ein zu seiner Zeit interessantes Werk mit starken Momenten, verliert aber durch seine klischeehafte Gesellschaftsdarstellung und vor allem die übertriebene Detailfülle aus meiner Sicht an Relevanz und Kraft. Alles in allem ist es viel zu lang. Es hat mich streckenweise an Demon Copperhead erinnert, das mir inhaltlich wie stilistisch besser gefiel, allerdings auch kürzer hätte sein können. Zu langatmig für einen Actionthriller, zu oberflächlich für einen großen Gesellschaftsroman, zu ausführlich für ein coming-of-Age, und auch kein besonders innovativer Kunstkrimi. Wie Philipp Tingler vlt sagen würde, "so mittel".;-)