Ausgezeichnet mit dem Wissenschaftspreis 2025 des Deutschen Bundestages.
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Besprechung vom 09.07.2024
"Seismograph der Parlamentskultur"
Wenn der Grundkonsens bröckelt - Vom Nutzen und Grenzen ungeschriebener Regeln im Bundestag
Ungeschriebene Regeln im Parlament können Außenstehende befremden. Ihre fehlende Niederschrift macht es schwer, Abläufe nachzuvollziehen. Neben vermeintlichen Banalitäten wie der Kleider- oder Sitzordnung behandeln sie praktisch bedeutsame Fragen wie die personelle Besetzung der Ausschussvorsitze oder des Bundestagspräsidiums. Es gibt sie aus gutem Grund: Als Verfahrens- und Organisationsregeln erleichtern sie die Entscheidungsfindung. Auseinandersetzungen konzentrieren sich mehr auf die Sache und weniger auf Verfahren. Parlamente werden dadurch leistungsfähiger. Ungeschriebene Regeln haben zudem eine befriedende Wirkung. Sie leben davon, dass jeder sie einhält. Das schafft Vertrauen, setzt aber auch eine Konsensbereitschaft unter den Parlamentariern voraus. Seit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag bröckelt der dortige Grundkonsens. Während die Rechtspopulisten parlamentarische Gepflogenheiten offen infrage stellen, setzen die übrigen Fraktionen auf Ausgrenzung. Bis heute durfte die AfD-Fraktion keinen Bundestagsvizepräsidenten stellen. Das wirft rechtliche Fragen auf, mit denen sich in jüngster Zeit auch immer wieder das Bundesverfassungsgericht auseinandersetzen musste.
Das Thema bietet ausreichend Stoff, um daraus eine juristische Dissertation zu stricken. Die Anzahl hierzu veröffentlichter Arbeiten ist überschaubar. Viele davon beziehen sich noch auf ein konsensual geprägtes Drei-Fraktionen-Parlament aus Union, SPD und FDP. Mit den Grünen und der AfD nehmen mittlerweile aber fünf Fraktionen sowie die parlamentarischen Gruppen der Linken und des BSW im Bundestag Platz. Das hat sich auch auf interfraktionelle Verständigungen ausgewirkt. Dass der Hannoveraner Rechtswissenschaftler Felix Lücke eine Doktorarbeit zu dem Thema geschrieben hat, ist deshalb erfreulich.
Seine Arbeit setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Im ersten empirischen Teil trägt der Autor die ungeschriebenen Regeln im Bundestag zusammen und unterteilt sie anhand ihrer Funktion in verschiedene Kategorien. Beim Lesen dieser Zusammenschau wird man überrascht, wie viele der gängigen Praktiken im Bundestag einzig auf informellen, konsensbasierten Absprachen beruhen. In einer ansprechenden Mischung aus jüngeren Entwicklungen und historischen Rückblicken fächert Lücke die Regeln auf. Leider lässt er seine Leser über die Datengrundlage seiner empirischen Studie im Unklaren. Die knappen Hinweise auf "bereits vorgenommene Beobachtungen in der Literatur" und "konkrete Informationen aus der Parlamentspraxis" liefern keine zufriedenstellende Antwort. Hier wären Ausführungen zur methodischen Herangehensweise notwendig.
Zum Ende seines ersten Teils resümiert Felix Lücke, dass ungeschriebene Regeln stets auch ein Spiegelbild des parlamentsdemokratischen Geistes, gegenseitiger Fairness und politischen Stils seien. Er zeichnet das gelungene Bild von einem "Seismograph der Parlamentskultur": Anhand der Kompromiss- und Konsensfähigkeit bei Verfahrens- und Organisationsfragen sei immer auch die gegenwärtige Kultur im Parlament ablesbar. Herausforderungen ergäben sich dann, wenn bestehende Konventionen durch einen parlamentarischen Neuling vornehmlich aus politischen Gründen der Abgrenzung vom bisherigen Status quo hinterfragt würden. Das sei bereits in den 1980er-Jahren bei den Grünen und nach der Wiedervereinigung bei der PDS zu beobachten gewesen. Neu sei jedoch die Verrohung des Parlamentsklimas durch den rechtspopulistischen Kommunikationsstil der AfD. Symmetrisch dazu verhalte sich die von den übrigen Fraktionen geübte Exklusionstendenz. Dies verdeutliche letztlich auch die Fragilität des parlamentarischen Grundkonsenses.
Im zweiten rechtssystematischen Teil der Arbeit untergliedert der Autor die ungeschriebenen Regeln im Bundestag in solche mit rechtlichem und nichtrechtlichem Charakter. Letztere hätten nur einen symbolischen Charakter und appellierten an die Moral der Parlamentarier. Schwerpunktmäßig behandelt der Autor solche Regeln mit Rechtsqualität. Diese seien überwiegend gewohnheitsrechtlicher Natur. Das Gewohnheitsrecht ist im vergangenen Jahrhundert weitestgehend vom Gesetzesrecht verdrängt worden. Die vermeintlich überalterte und unbedeutende Rechtsquelle sei Lücke zufolge im traditionsgeprägten Parlamentsrecht aber als eine Art Refugium erhalten geblieben. Der Autor plädiert für eine Überarbeitung der Entstehungsvoraussetzungen im parlamentarischen Umfeld. Überzeugend und gut begründet spricht er sich über den bisherigen Diskussionsstand hinaus dafür aus, in objektiver Hinsicht nicht nur auf die Dauer einer praktizierten Übung, sondern auf zusätzliche Indikatoren wie ihre Wiederholungsintensität abzustellen.
Interessant sind auch seine Ausführungen zur Normhierarchie. Lücke vertritt die Auffassung, parlamentarisches Gewohnheitsrecht stehe dem geschriebenen Parlamentsrecht äquivalent gegenüber. Diese Äquivalenzthese, die zugleich die zentrale These seiner Untersuchung darstellt, hätte noch mehr Schlagkraft gewonnen, wenn der Autor umfassender auf den Einwand der geringeren Rechtssicherheit eingegangen wäre. Mit diesem Argument wird im Schrifttum ein Nachrangverhältnis konstruiert. Lücke behauptet knapp, das Defizit lasse sich durch objektiv eindeutige Kriterien bei der Gewohnheitsrechtsbildung überwinden. Eine umfassendere Auseinandersetzung wäre auch im Interesse des Autors gewesen, um der erwartbaren Kritik an seiner These den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Insgesamt überzeugt die mit 563 Seiten sehr umfangreiche Dissertation dennoch. Seine Arbeit war anspruchsvoll, da er die nicht immer transparenten Wechselwirkungen zwischen Politik und Recht berücksichtigen musste. Mit seiner Dissertation trägt er dazu bei, ein Verständnis für die komplexen Wirkungsweisen im Parlament zu schaffen und dort für Rechtsklarheit zu sorgen, wo es aufgrund zunehmender Spannungen dringend nötig ist. FINN HOHENSCHWERT
Felix Lücke: Nicht kodifizierte Regeln im Deutschen Bundestag. Eine empirische und rechtssystematische Studie über das informale Parlament.
Duncker & Humblot, Berlin 2024. 563 S.
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