Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 27.08.2024
Kein Entkommen vor dem großen Nachbarn
Taiwan will nicht länger Anhängsel des Festlandes sein - und kann sich doc h nicht emanzipieren
Taiwan will nicht länger Anhängsel des Festlandes sein - und kann sich doch nicht emanzipieren Für das taiwanische Nationalgefühl ist die holländische Kolonialisierung ein wichtiger Bezugspunkt. Von 1624 bis 1662 besetzten die Holländer Teile der Insel und veränderten die Gesellschaft nachhaltig. So richteten sie etwa ein Steuersystem ein und brachten Techniken wie Druck und Papierherstellung mit. Ihr vornehmliches Interesse galt freilich nicht Taiwan - sondern dem Handel mit dem chinesischen Festland.
Die komplexen Verbindungen zwischen Taiwan und China stellt Gunter Schubert in "Kleine Geschichte Taiwans" kompakt, übersichtlich und mit der nötigen Tiefe dar. Dem Autor gelingt es, einen gut verständlichen Überblick zu bieten, der kein Vorwissen erfordert, und gleichzeitig die historischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in angemessenem Detail zu beschreiben. Besonders hilfreich sind dabei zusammenfassende Abschnitte am Ende der Kapitel, die die Bedeutung der geschilderten Geschehnisse für das Taiwan von heute deutlich herausarbeiten.
Dabei steht im Hintergrund (fast) immer die Frage nach dem Verhältnis Taiwans zum chinesischen Festland und einer (han-)chinesischen Identität. In zwei Kapiteln am Ende des Buchs stehen die "Taiwanische Identität und Nationsbildung" und "Der sino-taiwanische Souveränitätskonflikt" explizit im Mittelpunkt. Aber auch in den chronologisch geordneten Kapiteln zuvor werden die Verbindungen mit dem Festland als ein entscheidender Faktor der Entwicklungen dargestellt.
Aus diesem Muster scheint lediglich die japanische Kolonialzeit (1895 bis 1945) auszubrechen - wieder entschied ein großer Nachbar über das Schicksal der Insel. Wie diese bewegte Geschichte trotz Konflikten mit und Unterdrückung durch externe Mächte heute zur Grundlage einer eigenständigen nationalen Identität geworden ist, die sich auf das "multikulturelle Erbe der Inselgesellschaft" bezieht "und sich damit vom Narrativ des han-zentrierten chinesischen Nationalismus abgrenzt", zeichnet Schubert über das Buch hinweg mehr oder weniger explizit, aber immer gut nachvollziehbar nach.
Dass eine Deutung der taiwanischen Geschichte, nach der die Insel häufig als Anhängsel des chinesischen Festlandes betrachtet wurde, insgesamt schlüssig ist, wird in den Schilderungen mehrerer Epochen offensichtlich. So flohen sowohl die Anhänger und Mitglieder des Koxinga-Clans, der von 1662 bis 1683 über große Teile Taiwans herrschte, als auch die der Kuomintang (KMT, autoritäre Herrschaft von 1945 bis 1987) vor den Regimen, die jeweils dabei waren, das Festland zu erobern - vor der mandschurischen Ming-Dynastie beziehungsweise vor der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Und sie nutzten Taiwan als Ausgangspunkt für eine erhoffte, aber jeweils gescheiterte, Rückeroberung des Festlands. Mehrfach wurde Taiwan so zum Hort der Rebellion gegen die jeweiligen Herrscher auf dem chinesischen Festland.
Die KMT musste diese Ambitionen Ende der 1960er-Jahre aufgeben, als die USA Präsident Chiang Kai-shek zu verstehen gaben, dass sie ihn dabei nicht unterstützen würden. Spätestens ab den 1970er-Jahren wurde deutlich, dass ein substanzieller Teil der taiwanischen Gesellschaft an einer Vereinigung mit dem Festland oder gar einer Eroberung kein Interesse hatte und hat. Aus dem Widerstand gegen die KMT und ihre Chinapolitik entstand eine Oppositionsbewegung, die politische Reformen forderte und Unabhängigkeit von China erlangen wollte. Trotz teils massiver Repressionen gründete sich daraus im November 1986 die Demokratische Fortschrittspartei (DFP). Bei Wahlen im Dezember 1986 holte sie aus dem Stand 24,6 Prozent im Legislativyuan, dem gesetzgebenden Organ, und 19,9 Prozent in der Nationalversammlung, dem Vertretungsorgan der Provinzen.
In der Folge etablierten sich ab den frühen 2000er-Jahren ein "grünes" Parteienlager um die DFP und ein "blaues" Lager um die KMT, die sich in erster Linie durch ihre Haltungen zur Volksrepublik China unterscheiden. Dabei bekennt sich die KMT zum sogenannten Ein-China-Prinzip, also zur Zusammengehörigkeit des Festlands und Taiwans, und pflegt teils enge und persönliche Kontakte zu Funktionären der KPCh. Die DFP verfolgt dagegen einen Unabhängigkeitskurs. Damit gewann sie im Jahr 2000 erstmals das Präsidentenamt und stellte seither für insgesamt 16 Jahre den Präsidenten. Die Chinapolitik der verschiedenen Regierungen schildert Schubert im Detail, geht aber auch auf andere Bereiche wie die Wirtschaftspolitik unter Chen Shui-bian (2000 bis 2008) und Bemühungen um die Aufarbeitung der autoritären KMT-Herrschaft unter der DFP-Präsidentin Tsai Ing-wen (2016 bis Mai 2024) ein.
Gerade Letzteres zeige aber auch, "wie tief die Gräben zwischen den beiden wichtigsten Parteien in Taiwan noch immer sind". Ein Komitee sollte Menschenrechtsverletzungen des autoritären KMT-Regimes aufarbeiten. Ein Augenmerk lag auf dem sogenannten Weißen Terror, als die KMT nach gewaltsamen Aufständen am 28. Februar 1947 die Insel mit Repressionen überzog, die offiziellen Schätzungen zufolge zu 10.000 bis 30.000 Toten führten. Aktivisten und Wissenschaftler gehen von 100.000 Toten aus. Der "Weiße Terror" hielt bis in die 1960er Jahre an.
Auch diese Ereignisse sind heute ein Bezugspunkt für eine taiwanische Nationalidentität, zu der sich mittlerweile 62,8 Prozent der taiwanischen Bevölkerung alleinig bekennen. Dagegen sehen sich nur noch 2,5 Prozent der Bevölkerung als ausschließlich chinesisch, 30,5 Prozent sagen, sie identifizieren sich als taiwanisch und chinesisch. Dass Taiwan nie Teil der Volksrepublik China war und auch nicht werden soll, ist Konsens zwischen den taiwanischen Parteien. In der Volksrepublik, zumal unter Staats- und Parteichef Xi Jinping, sieht man das anders: "Allenthalben wird nur noch über den Zeitpunkt einer chinesischen Invasion spekuliert." Trotz aller gesellschaftlichen und politischen Unterschiede zum großen Nachbarn kann die Insel der geographischen Nähe nicht entkommen. SARA WAGENER Gunter Schubert: Kleine Geschichte Taiwans.
C.H.Beck Verlag, München 2024. 185 S.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.