Besprechung vom 08.01.2025
Wenn es Nacht wird in Botch Town
Jeffrey Ford erzählt im phantastischen Roman "Das Schattenjahr" von der Entzauberung der Kindheit
Im Grunde genommen habe der Spanner mit dem kalkweißen Gesicht, der am Vorabend Mrs. Conrad durch das Schlafzimmerfenster beim Auskleiden belauerte, seine gerechte Strafe schon erhalten, flachst Jim. Wieso das denn, wundert sich ihr begriffsstutziger Sohn Franky. "Jim kicherte. 'Denk an den Arsch deiner Mutter.' Franky schwieg kurz, aber man konnte förmlich hören, wie hinter seiner Stirn die Rädchen schnurrten. Dann schnellten seine Augenbrauen in die Höhe."
Weil der Perverse aber ein Wiederholungstäter ist, den die Erwachsenen des schläfrigen Ostküstenstädtchens einfach nicht dingfest machen, legen sich Jim, seine kleine Schwester Mary und ihr mittlerer Bruder, der namenlose Ich-Erzähler aus Jeffrey Fords mysteriösem Coming-of-Age-Roman "Das Schattenjahr", auf die Lauer. Es ist später August irgendwann in den Sechzigern, der Eismann Mr. Softee dreht die letzte Runde, und das neue Schuljahr wirft seine Schatten voraus. Als dann der junge Prügelknabe Charlie Edison spurlos verschwindet, schlägt das unschuldig begonnene Detektivspiel um in den Ernst des Lebens.
"Das Schattenjahr", im Original 2008 erschienen, ist Jeffrey Fords fünfter Roman. Unter Genre-Fans gilt der 1955 auf Long Island geborene Autor als Meister aller Klassen. Sein vielfach ausgezeichnetes Erzählwerk kennt keinerlei Berührungsängste gegenüber Science-Fiction, Fantasy oder Horror. Ford ist ein allen Spielarten der Belletristik gegenüber aufgeschlossener Ideenvulkan und Bibliomane, der sich früh an der Abenteuerliteratur des neunzehnten Jahrhunderts schulte, seinen Kafka wie seinen Borges kennt, aber auch aktiv den Austausch mit jüngeren Kollegen sucht. Als Einführung in sein Schaffen hat der noch junge Wandler Verlag aus Mecklenburg-Vorpommern mit "Das Schattenjahr" eine gute Wahl für die erste Übersetzung eines Buchs von Jeffrey Ford ins Deutsche getroffen. Denn das außerordentliche Gespür dieses Schriftstellers für packende Atmosphären bricht sich hier in jedem Kapitel Bahn.
Im Kern sei es einst ein autobiographisches Projekt gewesen, bekannte Ford in mehreren Interviews, eine Tiefenbohrung im Kleinstadtkosmos der eigenen Frühgeschichte, die erst im Schreibprozess an Eigendynamik und Literarizität gewann. Wobei stärker noch als die augenfälligen Parallelen zu Stephen Kings Suburbia-Nostalgie die Bewunderung für Jack Kerouacs "Doctor Sax" durchscheint. Wie dieser mit Abstand beste Roman des Beatniks meditiert auch "Das Schattenjahr" über die Entzauberung kindlicher Phantasie an der Schwelle zur Pubertät.
Doch während Kerouacs Held einigermaßen possierlich tagsüber vor dem Radio seine eigene Baseballliga entwirft, um nach Einbruch der Dunkelheit dem titelgebenden Schurken nachzustellen, geht es bei Ford ungleich düsterer zu, sobald die investigativen Geschwister ihre Köpfe über "Botch Town" zusammenstecken: Auf einer großen Sperrholzplatte hatte der Vater, ein mit zig Jobs überarbeiteter Malocher, der im Familienalltag noch unsichtbarer ist als die dauerweggetretene Alkoholikermutter, eine Modelleisenbahn errichten wollen. Bis das Geld ausgeht und Jim das Heft in die Hand nimmt: "Aus Kaffeedosen, alten Schuhkartons, Teilen defekter Haushaltsgeräte, Pez-Spendern, Knöpfen, Pappbechern, Eisstielen, Flaschen und allem möglichen anderen Kram begann er ein Miniaturabbild unseres Viertels und der Umgebung zu bauen."
Bevölkert wird dieses Stadtspiegelbild von kleinen Figürchen, anhand derer die Kippen paffende Viertklässlerin Mary die Wege der Einwohner vorhersagen kann. Auch der Spanner und mutmaßliche Kindsmörder hat einen Avatar, der offensichtlich die nächsten Opfer auskundschaftet und mit seinem weißen Auto schließlich vor ebenjenem Haus parkt, in dem die drei Kids über "Botch Town" brüten.
Geschickt überblendet Ford die Erzählebenen, nicht zuletzt indem er seinen Erzähler ein Journal über die Mitmenschen und ihre Marotten führen lässt, wodurch der Junge zum Doppelgänger des Spanners wird, dem er auf die Schliche kommen will. Permanent tun sich neue Spuren auf, die dann zum großen Teil wieder erkalten. Für eine Chronik, die protokollarisch den Verlauf eines schicksalsträchtigen Jahres dokumentiert, ist das Ausfasern vieler loser Fäden nur konsequent. Es sind die Details, die diese untergegangene Welt der amerikanischen Sechziger zum Leben erwecken, beispielsweise in den still fortwirkenden Kriegstraumata der Veteranen.
Die Kinder verlieren derweil ihre Naivität, wechseln auf die Junior High und sagen der Schar ihrer imaginären Freunde unweigerlich Lebewohl - kurzum: Sie werden erwachsen. Und so obliegt es dem Ich-Erzähler, am Ufer des zugefrorenen Sees, in dem er die Leiche des verschwundenen Klassenkameraden entdeckt - darüber aber Stillschweigen bewahrt -, dessen am Boden zerstörter Mutter Trost zu spenden. Sie alle würden Charlie vermissen, versichert er Mrs. Edison unverhohlen, und viel an ihn denken, sein Sitzplatz in der Schule bleibe unbesetzt. Was glatt gelogen ist, aber so machen es eben die Großen. "Ich nahm an, sie wollte etwas sagen, aber urplötzlich schloss sie mich in die Arme und drückte mich an sich. Mich durchfuhr ein Schreck und, damit vermischt, noch ein anderes Gefühl, aber ich wehrte mich nicht. Ich spürte ihre Rippen und ihren Herzschlag. Ein großer Batzen Zeit, vielleicht eine Minute, verstrich, bevor sie mich aus ihrer Umarmung entließ. Sie legte mir kurz die Hand auf den Kopf und sagte: 'Jetzt lauf heim.'"
Was der Junge auch tut, bereits in der Vorahnung, in diesem "Schattenjahr" etwas zu verlieren, das er für den Rest seines Lebens vergeblich suchen wird. MAXIMILIAN MENGERINGHAUS
Jeffrey Ford: "Das Schattenjahr". Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers. Bilder von Derek Ford. Wandler Verlag, Wendorf 2024. 370 S., br.
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