
Besprechung vom 16.08.2025
Marmor, Stein und Eisen bricht
Sisyphos wälzte ihn einen Berg hinauf. Man kann ihn bei jemandem im Brett haben. Manchmal liegt er schwer im Magen. Im Glashaus sollte man ihn besser beiseitelegen: Steinen werden seit jeher viele verschiedene Bedeutungen zugesprochen. Vor allem aber sind die gepressten Mineralien allgegenwärtige, basale Bestandteile unserer physikalischen Welt und gehören ebenso wie das Element Wasser nicht zu den vom Menschen gemachten Dingen. Doch während vor etwa 3,8 Milliarden Jahren die ersten Lebewesen im Wasser gediehen und dieses als Grundlage allen Lebens gilt, sind Steine Prototypen des Unbelebten, das unwirtliche, erkaltete Produkt des kochenden Erdinneren. Und doch: Ohne Lavagestein und die Bildung der Erdkruste hätten sich wohl nie jene Ozeane des Archaikums bilden können, die dem Leben auf Erden Werden und Entwicklung ermöglichten. Insofern waren beide, Steine und Wasser, an der Entstehung von Leben auf der Erde beteiligt, so wie auch heute noch das weibliche und das männliche Prinzip für das Erzeugen eines menschlichen Wesens nötig sind.
Wasser und Stein sind die Protagonisten in Lydia Dahers kurzem Prosagedicht, dem ein Zitat aus Kindermund vorangestellt ist: "Mama ist aus Regen. Papa aus Metall" heißt es einleitend. Schon der hier eher ungewöhnlich gesetzte Punkt zwischen den Phrasen unterstreicht die Trennung zwischen zwei ungleichen Partnern und lässt sie trotz logisch anzunehmender Elternschaft als Antagonisten erscheinen.
Der Vater fällt laut Kindermund unter eine andere Kategorie als die Mutter. Hunderte Kilometer unterhalb der Erdkruste ist es unglaublich heiß und es herrscht ein solch immenser Druck, dass sich sogar Gestein verflüssigt. Hier entstehen Kristalle, Edelsteine und Metalle. Der metallene Vater ist somit ein Bild für das Druckvolle, das Harte, Schneidende und Trennende, während die Mutter vom Kind mit dem Regen, als Sinnbild des Fließenden, Verbindenden und Nährenden, assoziiert wird. Noch bevor man darüber nachdenken kann, was diese Bilder wohl bedeuten mögen, taucht man auch schon ein in eine kurze und einprägsame Unterwasserszene, eine kleine Beobachtung nur, die beginnend mit dem konjunktivischen "Als würde man" das Anheben und Sinkenlassen eines Steines im Wasser beschreibt.
Dass einem in manchen Extremsituationen, die das Leben wohl für jeden hin und wieder bereithält, der Atem stocken, dass man sich manchmal so fühlen kann "wie unter Wasser", ist nicht einfach irgendein Vergleich, keine leere Metapher. Auch, dass man den Ereignissen auf dieser Welt bisweilen keinen Glauben mehr schenken mag oder kann, dürften Entsprechungen ein und derselben Erfahrung sein, nämlich jenes Gefühls, etwas Unabwendbares erdulden zu müssen und rein gar nichts dagegen tun zu können.
An der Gewissheit, dass ein angehobener Stein im Wasser sinken wird, weil er den Naturgesetzen folgen muss, lässt sich nun mal nichts ändern. Dass unpersönliche, beobachtende "man" im Text bleibt ebenso abstrakt wie die übrigen Protagonisten dieses Experiments, das keines ist.
Man kann dieses kleine Gedicht als eine Allegorie auf das Leben lesen. So dürften bei einer Scheidungsrate von knapp 36 Prozent im Land die Ereignisse, die auf einer zweiten, rein menschlichen Ebene hinter den bildhaften Naturschilderungen erscheinen, wohl sehr vielen Menschen bekannt sein. Etwas Unvorhergesehenes geschieht, und auf einmal geht das Leben vor unseren Augen den Bach runter, ein unaufhaltsamer Sinkflug beginnt. So wie ein Stein, der, einmal losgelassen, im tiefen Wasser außer Sicht gerät, so verschwinden aus unseren Leben bisweilen Menschen, die wir lieben. Kennen nicht, auf die eine oder andere Art und Weise, fast alle das Gefühl der Ohnmacht, das Verlassene überkommt, wenn sie bemerken, dass die Person, die im Begriff ist zu gehen, mit der Beziehung längst abgeschlossen hat und keine Umstimmung mehr möglich ist, was jede Hoffnung auf eine Abwendung der Katastrophe zunichte macht?
Wem derart Unbegreifliches widerfährt, kann auf das Unbestreitbare nur mit Unglauben reagieren. Dies zeigt auch, dass Unglaube ebenso wie sein guter Zwilling, der Glaube, bisweilen die einzige Möglichkeit ist, die uns, zumindest in der eigenen Wahrnehmung, einen Rest von Kontrolle über das eigene Geschick zurückzugeben vermag: "Das kann ich einfach nicht glauben" bedeutet aber auch, das etwas, das uns geschieht, in eine moralisch derart unwürdige Kategorie gehört, dass man dieses Etwas nur mit Unglauben strafen oder ignorieren kann.
Lapidar und schnörkellos sind die Zeilen dieses Gedichts, doch sie reichen vollkommen aus, um die tiefe Tragik des Zerbrechens einer Familie aufs Eindringlichste deutlich werden zu lassen. Stein hat viele Eigenschaften, vor allem aber kann er brechen, ganz so wie Marmor und Eisen in Drafi Deutschers berühmtem Schlager; die Liebe hingegen bricht, dort zumindest, nicht. Doch von solch unverbrüchlicher Liebe spricht in Lydia Dahers Zeilen niemand.
Lydia Daher: "Wo wir bleiben". Gedichte. Edition Azur, Dresden 2024. 80 S., br., 22,- Euro.
Von Julia Trompeter ist zuletzt erschienen: "Versprengtes Herz". Gedichte. Schöffling Verlag Frankfurt am Main 2023. 88 S., geb,.
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