Besprechung vom 07.04.2025
Merkel war an fast allem schuld
Ein eigenwilliger Rückblick auf die Euro-Krise
Rund um die Veröffentlichung von Angela Merkels Memoiren im November 2024 sind mehrere kritische Biographien der Ex-Kanzlerin erschienen, die sich im Inhalt - bei großen Differenzen im Ton - nicht sehr unterscheiden. Eckart Lohse, der Berliner Büroleiter der F.A.Z, fasst sein Urteil über Merkels Politikstil so zusammen: "Sie legt sich nicht fest, wartet ab, steuert nach, schaut, wohin sich der Wind dreht." Der Autor Martin Heipertz nennt das im Politologenjargon "Inkrementalismus". In einem ebenfalls im Herbst erschienenen Buch mit dem albernen Titel "Merkelismus - die hohe Kunst der flachen Politik" vertritt er die These, dass Merkels zögerlicher Stil schon die Eurokrise bestimmte - und sie im Ergebnis verschlimmerte. Der Befund ist weder neu noch originell, und er trifft mindestens teilweise zu. Verwundern muss aber die Einseitigkeit, mit der Heipertz Merkel für alle Politikfehler während der Eurokrise verantwortlich macht und zugleich seinen damaligen Dienstherrn Wolfgang Schäuble in etwas sehr hellem Licht scheinen lässt.
Der Verfasser bringt als studierter Politologe und Ökonom, aber auch angesichts seiner rasch aufeinanderfolgenden beruflichen Verwendungen in den EU-Banken EZB und EIB, als "Wahlhelfer" Jean-Claude Junckers bei der Europawahl 2014 und vor allem als stellvertretender Büroleiter Schäubles im Bundesfinanzministerium während des Krisenjahres 2010, das Rüstzeug für eine fundierte Analyse der Eurokrise mit. Vielleicht liegt es aber gerade an den sich überlagernden Perspektiven, dass sein Buch selten überzeugt.
Es zerfällt in zwei sich immer wieder überschneidende Teile. Der eine besteht aus essayistisch-theoretischen Analysen der Politik im Allgemeinen und der Währungsunion im Besonderen. Der andere enthält Nacherzählungen der maßgeblichen Monate des Jahres 2010, von der ersten Zuspitzung der griechischen Schuldenkrise zu Beginn des Jahres bis zur Entscheidung über ein "Rettungspaket" für Irland im November. Heipertz beschränkt die Darstellung redlicherweise auf dieses Jahr, weil er nur in jener Zeit in Schäubles Nähe war. Einen Blick hinter die Kulissen bietet das Buch jenseits von eher redundanten Beschreibungen des ministerialen Alltags nicht.
Die zentrale These des Buchs lautet, dass Merkel zu Beginn der Griechenlandkrise Anfang 2010 "prokrastiniert", eine weniger kostspielige Lösung der noch begrenzten Krise so verhindert und erst dadurch die für die deutschen Steuerzahler später kostspielige "Euro-Rettung" bewirkt habe. Heipertz kontrastiert Merkels Zaudern mit Schäubles Zugriff auf die Krise, etwa mit dessen Vorschlag, einen Europäischen Währungsfonds nach dem Vorbild des IWF zu schaffen. Der Minister hat Merkels damalige Zögerlichkeit in seinen Memoiren ebenfalls scharf als "typisch für ihren Führungsstil" kritisiert. Schäuble ist insoweit für Heipertz der Kronzeuge. Es ist müßig, zu spekulieren, wie die Griechenlandkrise 2010 ausgegangen wäre, hätte Schäuble und nicht Merkel die oberste Entscheidungsgewalt gehabt. Am Ende ist das nicht die Frage, die Heipertz umtreibt. In seinem Buch wendet er jede Situation gegen die Kanzlerin. Er lamentiert über das "System Merkel", "Angela Merkels Deutschland" oder die "Methode Merkel", nicht immer mit Bezug zur Euro-Krise. Solche Formulierungen spiegeln ein tief sitzendes Unbehagen an der Kanzlerin wider, wie es in der alten West-CDU, aus der Heipertz stammt, weit verbreitet war und ist.
Dass erst mit ihr alles schlecht wurde, behauptet der Autor sogar mit Blick auf die Geschichte der Währungsunion. Deren schon zu Beginn der 1990er-Jahre von Ökonomen analysierte Konstruktionsfehler referiert er zunächst zutreffend. Dann lobt er Helmut Kohl, der genau diese Konstruktionsfehler mitzuverantworten hatte, dafür, dass dieser angeblich immer eine politische Union anstrebte, um die Fehler zu überwinden. Schließlich wirft er Merkel und ihrem Vorgänger Gerhard Schröder vor, die Vision einer politischen Union nicht weiterverfolgt zu haben. Das ist schon deshalb unsinnig, weil bereits der Realist Kohl zum Ende seiner Amtszeit hin den Glauben an eine politische Union verlor.
Noch in seiner Darstellung des Wochenendes vom 7. bis 9. Mai 2010, an dem in Brüssel die Schaffung eines Euro-Rettungsschirms beschlossen und die Weichen in Richtung einer Haftungsunion gestellt wurden, verbeißt sich Heipertz aber in die Behauptung, die Bundesregierung hätte damals als "Gegenleistung" für den Euro-Rettungsschirm noch eine politische Union durchsetzen können. Wieder macht er dafür Merkel verantwortlich, dass es nicht so kam - und verbindet das mit der steilen These, dass das Finanzministertreffen an jenem Wochenende womöglich anders ausgegangen wäre, wäre Schäuble in Brüssel nicht ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Heipertz war an den Brüsseler Verhandlungen nicht beteiligt. Das Ergebnis hat er nach eigenen Worten am Montagmorgen "fassungslos" zur Kenntnis nehmen müssen. Das mag seine Illusion erklären, Deutschland hätte an jenem Wochenende eine politische Union herbeiverhandeln können. Die stand 2010 nicht mehr auf der Tagesordnung, und das war nicht Merkels Schuld. An dem Wochenende, an dem zuerst die Staats- und Regierungschefs, dann die Finanzminister hektisch im Wettlauf mit den Finanzmärkten nach einer "Rettung" des Euros strebten, war für das Thema ohnehin keine Zeit. Dass die Kanzlerin auf das Treffen jenes Wochenendes schlecht vorbereitet war und sich in Brüssel überrumpeln ließ, ändert daran nichts. WERNER MUSSLER
Martin Heipertz: Merkelismus - Die hohe Kunst der flachen Politik. Westend Verlag, Neu Isenburg 2024, 272 Seiten
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