Selten war der Titel eines Romans so passend wie beiZorn und Stille, denn das Leben der Familie Banadinovi¿, das hier erzählt wird, wird maßgeblich durch diese beiden Zustände bestimmt. Da ist nämlich einerseits eine große Wut, vor allem bei den weiblichen Familienmitgliedern: Die Fotografin Billy, eigentlich Biljana, verlässt mit 17 Jahren ihr Elternhaus und hat fortan nur noch sporadisch Kontakt mit ihrer Familie. Die Haltung ihrer Eltern (serbische Migranten in Österreich), hart zu arbeiten, wenig aufzufallen und irgendwie durchs Leben zu kommen, stößt sie ab, doch der Bruch kommt mit dem Jugoslawienkrieg und der politischen Position, die die Eltern beziehen. Auch Mutter Azra ist wütend, war sie schon immer, doch seitdem ihr Sohn Jonas Neven verschwunden ist, kennt ihr Zorn keine Grenzen mehr. Sie richtet sich ein in diesem Gefühl, das doch besser ist als Trauer, und ihr hilft die Sprachlosigkeit angesichts des Verlusts ihres Kindes zu kompensieren. Vater Sima zeichnet sich ebenfalls durch Schweigen aus: Das Reden über Gefühle hat er wie viele Männer seiner Generation nicht gelernt, in Österreich halten ihn die Blicke seiner Mitmenschen, die ihn doch nur für einen Hilfsarbeiter mit schlechten Sprachkenntnissen halten, ab. Verluste zeichnen das Leben der Familie Banadinovi¿ über viele Jahre aus: Verlust der alten Heimat, Verlust der Tochter/Schwester bzw. des Sohnes/Bruders, bis am Ende - das in diesem Roman den Anfang darstellt - der Verlust des Vaters steht. Erst jetzt beginnt Billy sich die Fragen zu stellen, die sie all die Jahre nie verbalisiert hat.Sandra Gugi¿ erzählt inZorn und StilledieGeschichte einer Familie vor dem Hintergrund des Zerfall Jugoslawiens. Die Banadinovi¿ sind Serben, die als Gastarbeiter nach Wien kommen, und aus der Ferne miterleben müssen, wie das Land, das sie Heimatland nennen, verschwinden. Gugi¿ erzählt vonIdentität, Generationskonflikten und einer allumfassenden Sprachlosigkeit. Wie spricht man über Herkunft und kulturelle Wurzeln, wenn das Land, aus dem man kommt, nicht mehr existiert? Wie erklärt man Kinder einen Krieg, indem die feindlichen Parteien zuvor als Bruderstaaten nebeneinander existierten? Die politische Stummheit der Eltern bleibt nicht ohne Folgen für die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander: Mutter und Vater können ihren Kindern nicht vermitteln, wer sie einst gewesen sind und was sie geprägt hat; Billy flüchtet sich in die Fotografie, um mit Bildern auszudrücken, wofür sie keine Worte hat; und Jonas Neven bleibt als Nesthäkchen in der Stille zurück, bis er auf Spurensuche in den ehemaligen jugoslawischen Staaten geht und nicht mehr zurückkehrt.Weder mein Bruder noch ich - keiner von uns hatte den Krieg erlebt, nur Schatten hatten uns gestreift. Und doch hatte er uns alle verändert. (S. 78)Der Jugoslawien-Krieg ist das zentrale Thema in Gugi¿s Roman, um das - der Unfähigkeiten der Protagonist:innen enstprechend - immer nur gekreist wird, ohne dass seine Bedeutung zentral benannt und erklärt wird. Gugi¿ schreibtassoziativund lässt die Protagonist:innen sich in ihren Erinnerungen verlieren. Der Roman besteht zum größten Teil ausRückblickenund ist in drei kurze Kapitel geschildert, in denen jeweils Billy, Azra und Sima zur Wort kommen und die 2016, 2008 und 1999 spielen. So setzt sich die Familiengeschichtebruchstückhaft in der Rückschau zusammen, was zwar einerseitssehr reizvoll ist, bisweilen aber auch ermüdet. Zorn und Stillefehlt es mitunter an Handlung, die knapp 240 Seiten fühlen sich aufgrund der Machartdurchaus wiederholend, manchmal auch zäh an.Sprachlich ist der Roman anspruchsvoll und intensiv, der Stil trägt über diefehlende Spannung und auftretende Langeweilehinweg.Zorn und Stilleist deswegen vor allem ein Roman für Leser:innen, die sich an einer bedachten Erzählweise erfreuen und mit Leerstellen in einer Geschichte (und vor allem mit offenen Enden) umgehen können. Ein Roman, in demForm und Inhalt Hand in Hand gehenund der häufig mitschweigt, statt zu erklären. 4 Sterne,Jugoslawien war ein Märchen, dieses Land hatte nie existiert. (S. 215)