Der Essaysammelband Pandemiepolitik Freiheit unterm Rad? der Herausgeberinnen Sandra Kostner und Tanya Lieske aus dem Herbst2022 zeigt ein differenziertes, analytisches Bild verschiedener Aspekte der Coronakrise, insbesondere des Umgangs von Menschen und Gruppen, die mit Macht ausgestattet sind, mit Menschen mit geringer Macht, und insbesondere mit Menschen, die eine Sichtweise einbringen, die die Definitionsmacht derer, die Verfugungsgewalt haben, gefahrden konnten. Fur verschiedene Bereiche zeigen die Autoren und Autorinnen auf, wie rasch eine per Dekret geschaffene Welt, die fast nur noch in Schwarz (politisch nicht erwunscht) und Weiß (politisch korrekt) unterscheidet, wissenschaftliche und allgemeine Erkenntnissuche per Fragestellungen und den kontroversen Diskurs abschafft und damit auch den originaren Wissenschaftsgedanken. Interessant ist hierbei, wie sich der Grundgedanke einer neuen Doktrin durch multiple Felder und Disziplinen zieht im immer ahnlichen Stil, echtes Hinterfragen nicht mehr zuzulassen und Disput durch Oktroyieren von eng gezogenen Handlungskorridoren und Gedankenboxen zu ersetzen.
Die Essays der Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachrichtungen bieten einen geschichtsrelevanten Beitrag im Hinblick auf Analyse und Aufarbeitung grober politischer Verfehlungen, gesellschaftlicher Verwerfungen, Werteverschiebungen und ethisch fragwurdiger Simplifizierungen im großen Stil sowie auf die Machtverschiebungen der letzten Jahre. Ein besonderer Wert ergibt sich durch die unterschiedlichen fachlichen Blickwinkel, die an sich schon einen Kontrapunkt zum engen, moralisierenden, oft geradezu fanatisch fixierten Korridor insbesondere der deutschen Coronapolitik darstellen, durch den das Individuum allzu oft auf ein wertloses Stuck reduziert wurde, wenn es sich nicht fraglos der zwar nicht bewiesenen, so doch diktierten Wahrheit unterordnete oder auch nur den Anschein erweckte, es nicht zu tun. Anhand dessen lasst sich die Bekampfung statt Forderung dessen aufzeigen, was bis dato als Maxime zum Erkenntnisgewinn galt. Wenn immer mehr Fragen mit dem Tabu des Nichtfragendurfen belegt werden, liegt etwas mit dem System im Argen was sich gerade durch den multidisziplinaren Blick darstellen lasst: Es ist nicht nur ein Tumor im System, sondern er hat bereits in alle Richtungen metastasiert und droht damit, den gesamten Korpus der Wissenschaft zu zerfressen und zersetzen.
In vielen der Essays wird dargelegt, wie sehr Wissen und Erkenntnis vorgeschutzt wurden von Machthabern, um in Wahrheit erkenntnislose oder -arme, vor allem keineswegs alternativlose oder eindeutig richtige Maßnahmen zu verfugen, die im Nachhinein und auch wahrend ihrer Anwendung in großen Teilen deutlich mehr Schaden als Nutzen nach sich zogen, und die menschenverachtende Aspekte tiefster Intoleranz aufwiesen. Dies wird nicht nur im Rahmen der gesundheitlichen Schaden dargelegt, sondern auch fur Bildung und Wirtschaft, gesellschaftliche Verwerfungen, sogar fur Kunst (Musik) Glauben und Religion: Schaden an Leib und Seele auf der Mikroebene des Individuums und der gesellschaftlichen Makroebene. Macht gibt vor, zu wissen, auch wenn sie nur glaubt oder erkannt hat, dass sie mit vorgeblicher Erkenntnis weiter ausgebaut werden kann. Nach Lekture der Essays sollte klar werden, wie sehr sich als zutiefst antiwissenschaftlich denkend demaskiert, wer beispielsweise darauf beharrt, dass Dinge nicht hinterfragt werden durfen und damit den essenziellen wissenschaftlichen Diskurs moralisiert und diskreditiert und wie die Bandbreite einer freien Wissenschaft zu einem bandagierten Tunnel verkommt, wenn kunstliche Einheit geschaffen wird durch Verdrangung und Diskreditierung anderslautender Stimmen.
Aus den meisten Texten spricht daruber hinaus der Wunsch, als Gesellschaft die Spaltung zu uberwinden, wieder einen Konsens gegenseitiger Achtung statt Achtung zu finden und vor allem zu leben und aus dem Geschehen zu lernen statt zu verdrangen und vergessen.