Besprechung vom 06.09.2024
Rund um nichts
Sascha Michel widmet sich Leerstellen
Es ist nur auf den ersten Blick ein befremdliches Unterfangen, ein über zweihundert Seiten starkes Buch über fast gar nichts zu schreiben. Sollte sich Leere nicht gerade dadurch auszeichnen, weitgehend nichtssagend zu sein? Dieser naheliegende Gedanke müsste spätestens beim Blick auf die Zeitungsseite, die diese Rezension enthält, eine zumindest leichte Erschütterung erfahren. Denn anteilig ist auf dieser Seite die weiße Leere in deutlich größerer Menge vorhanden als die gedruckte Schwärze.
Mit allzu viel Fülle, so lässt sich daran lernen, kann die abwesenheitsabhängige Spezies Mensch schwerlich umgehen. Und Leerstellen sind nicht nur sinngenerierend, sondern sind sowohl in ihrer materiellen wie auch immateriellen Form konstitutiv für menschliches Leben. Durchgänge, Öffnungen, Poren machen Existenz überhaupt erst möglich.
Insofern ist die Leere, der sich Sascha Michel in seinem kulturgeschichtlichen Rundumblick widmet, ein mit zahlreichen Facetten angefülltes Thema - in der Tat so angefüllt, dass der Autor sich gar nicht allen Aspekten widmen kann. Michel konzentriert sich eher auf die immaterielle Seite der Leere, auf ihre Rolle als diskursives Phänomen in der sogenannten Moderne. Das Buch ist chronologisch aufgebaut und widmet sich der Behandlung der Leere im europäisch-westlichen Kontext von der Romantik bis zur Klimakrise. Michel weiß durch Belesenheit, weit gefächerte kulturelle Kenntnis sowie die stilistisch eingängige Präsentation seiner Geschichte zu überzeugen. Er überrascht zwar nicht mit Funden, die einer solchen Kulturgeschichte ein gänzlich neues Gepräge geben würden. Aber es gelingt ihm, Phänomene, Entwicklungen oder Denkrichtungen um das konstitutive Element der Leere anzuordnen und dessen Bedeutung aufscheinen zu lassen. Schließlich lautet eine weitere differenztheoretische Binsenweisheit: Leere lässt sich nur in Korrespondenz zur Fülle erkennen.
Michels Kulturgeschichte gewinnt ihr spezifisch europäisch-westliches Gepräge durch die Darstellung der offensichtlichen Abneigung, die im Westen gegenüber dem Leeren gehegt wurde. Weder die aristotelische Philosophie noch die christliche Theologie konnten besonders viel mit dem Nichtvorhandenen anfangen - mit Auswirkungen bis in unsere Gegenwart. Buddhistische Denkschulen verfolgten da einen gänzlich anderen Ansatz, mit ebenso weitreichenden Folgen.
Dass mit der Moderne ab etwa 1800 das Leere für christlich geprägte Kulturen erneut zu einem Problem werden sollte, lässt sich unschwer erahnen: Die schwindende oder negierte Bedeutung eines Schöpfergottes produzierte ein kosmologisches Vakuum, das nicht so leicht gefüllt werden konnte. Michel führt in seinem Buch luzide das Wechselspiel vor, das sich für europäische Zusammenhänge aus dieser Konstellation ergab: einerseits in dem Bemühen, die Leerstelle durch einen Ersatz füllen zu wollen, andererseits sie als Antrieb zu nutzen, um erhebliche Dynamiken auszulösen - etwa um mittels Raketenantrieb in die Leere des Weltalls vorzustoßen.
Zwischen Endzeitphantasien und Machbarkeitshybris entfaltet Michel ein Panorama an modernen Leerstellen, das die Frage provoziert, worin die viel beschworenen Fundamente bestehen sollen, auf die sich Gemeinwesen immer wieder berufen - außer in der Anrufung dieser Fundamente selbst. Das Subjekt weiß seit Descartes um sich selbst nur noch, weil es sich selbst denkt; die Demokratie muss sich ihrer selbst immer wieder vergewissern, weil sie gerade keinen substantiellen Kern hat; und der Kapitalismus kaschiert die kosmologische Leere mit einem Kreislauf von Produktion und Konsum, der zu seinem wesentlichen Inhalt nur das eigene Funktionieren hat.
Falls das nun etwas abstrakt klingen mag, denke man nur an ein prominentes Bauwerk der westlichen Moderne, die am häufigsten besuchte Sehenswürdigkeit weltweit, die erst in diesem Sommer während der Olympischen Spiele einmal mehr im Mittelpunkt von Kamerafahrten stand: Der Eiffelturm in Paris ist eine nahezu vorbildliche Manifestation der konstitutiven Rolle von Leerstellen. Diese Ingenieurleistung steht nicht nur auf einem weitgehend entleerten Marsfeld, besticht nicht nur durch seine löchrige Bauweise, sondern ist vor allem nahezu funktionsfrei. Der Eiffelturm existiert nur, weil es möglich war, ihn zu bauen. Er verweist ausschließlich auf sich selbst - selbst wenn er nun weiterhin die olympischen Ringe tragen soll, ist er ein durchaus angemessenes Mahnmal für die Bedeutung der Leere in der Moderne. ACHIM LANDWEHR
Sascha Michel: "Leere". Eine Kulturgeschichte.
Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2024. 242 S., br.
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