Ungewöhnlicher Thriller mit einem ungewöhnlichen und auch nachdenklich machenden Setting, der langsam Spannung aufbaut
Smillas beste Freundin ist als 16-jähriger Teenie während eines Wildcamping-Ausflugs spurlos verschwunden. Smilla gibt sich die Schuld und steckt irgendwie in ihrem Leben fest, absolviert gerade ein Volontariat, das ihr nicht gefällt, und recherchiert in ihrer Freizeit Fälle verschwundener junger Frauen aus der Region. Auch, dass sie immer wieder Zwiegespräche mit der allseits präsenten Freundin führt, zeigt dass sie emotional in dieser verhängnisvollen Nacht hängen geblieben ist. Aber nicht nur aus ihrer Sicht, wird die Geschichte erzählt.In den Bergen gibt es ein, nur durch einen Fußmarsch erreichbares Dorf einer Täufergemeinde, in dem v.a. schweigsame Männer unter der Führung ihres unheimlichen Pfarrers, kaum Frauen und und nur drei Kinder leben: Jesse und Rebecca sind Teenager. Jesse ist sehr intelligent und einfühlsam, er könnte, aber möchte die Bergsiedlung nicht verlassen, da er sich v.a. für seine pflegebedürftige Mutter verantwortlich fühlt. Rebecca kann es nicht erwarten "in die Stadt" zu gehen. Edith ist im Grundschulalter, ist ein neugieriges Mädchen, das sich geschickt im Berg bewegt, aber nicht spricht und im Gegensatz zu den anderen auch keine Schule besucht. Das sind die anderen drei Perspektiven, aus denen die Geschichte im Wesentlichen erzählt wird. Ergänzt werden Episoden aus Sicht der Dorfschullehrerin Frau Bender und des Dorfpfarrers, auch die man m.E. aber sogar hätte verzichten können.Diese multiperspektivische Beschreibung erhöht nicht nur die subtil aufgebaute Spannung, sondern gibt auch einen guten Einblick in das harte, entbehrungsreiche und rückständige Leben der Kinder/Jugendlichen in ihrer Siedlung. Dazu kommen die soziale Isolation und Ausgrenzung, die mangelnden Perspektiven und die Vorurteile, die diese Art zu leben mit sich bringen, aber auch die andere Sicht auf die Natur und das Leben, die damit verbunden sind; besonders die Gedanken der verwilderten Edith sind interessant zu verfolgen. Trotz allem beschleicht einen beim Lesen immer wieder die Frage, ob diese jungen Menschen in dieser nicht selbstgewählten Isolation glücklich werden könnten, ob es ihnen überhaupt gelingen könnte, sich in die "normale" Welt zu integrieren. Religion spielt in diesem Zusammenhang nur eine nebengeordnete Rolle, wenn die Macht des Pfarrers über seine Gemeindemitglieder thematisiert wird oder die Verfolgung der Täufer kurz erklärt. Obwohl das Thema Entführung durch das Verschwinden von Rebecca und Smillas Erinnerungen und Recherchen immer präsent bleibt, benötigt man als Leser, der mit einer Vorstellung von einem klassischen Thriller an die Lektüre geht, doch ein bisschen Geduld, da den größten Teil des Buchs die erwähnten Beschreibungen sozialer und naturgegebener Rahmenbedingungen in diesem abgelegenen Setting dominieren. Wobei die klaustrophobischen Schilderungen des Entführungsopfers Rebecca, die eingestreut sind, durchaus beeindrucken. Hinsichtlich des Täters war ich dann gar nicht so sehr überrascht, aber auch hier offenbaren sich weitere interessante psychologische Abhängigkeiten, die dieses Buch durchziehen wie ein Spinnennetz. Insgesamt hat mich dieser Thriller beeindruckt, weil er untypisch und hintergründig ist, weil er viel Mühe darauf verwendet, die Menschen, ihre (ungewöhnlichen) Lebensumstände, Beziehungen und Lebenschancen zu thematisieren und mit der Natur als dramatischem Element arbeitet: Die Dunkelheit der Höhlen, die Einsamkeit einer ausgetrockneten Klamm, die Bedrohlichkeit von Gewitter, der Wolf als Feind der Menschen usw., aber eben auch die schönen Seiten, wenn der Wolf auch ein treuer Gefährte ist oder die Schönheit der Flora beschrieben wird. Wer das mag, der ist mit diesem Buch sehr gut beraten.